Infrastruktur
9 Min
6. DEZEMBER 2024

Ländlicher Raum benötigt
mehr Gleisanschlüsse


Gleisanschlüsse, Ladestellen und Güterterminals (GLG-Anlagen) sind ­entscheidend, um mehr Güter auf die Schiene zu verlagern. Initiativen für den Ausbau der Schiene müssen verstärkt aus den Regionen kommen – und eine regionale Schienengüterverkehrs-Planung eingeführt werden.

Wo das Herz der Wirtschaft gleich einer ganzen Großregion und eines gesamten Bundeslandes schlägt, weiß Landrat Jens Marco Scherf genau: „Wir sind der industrielle Kern der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main und auch Bayerns.“ Die Rede ist vom Landkreis Miltenberg im bayerischen Regierungsbezirk Unterfranken. Er gilt als ein positives Beispiel dafür, dass Initiativen für den Ausbau der Schiene auch aus den Regionen selbst kommen müssen. Und die regionalen Güterbahn- Planungen wiederum müssen dann durch Länder und Bund unterstützt werden.

„Die im Landkreis Miltenberg angesiedelten Unternehmen möchten die Schiene sehr viel stärker nutzen“, weiß Landrat Jens Marco Scherf, „aber abseits der Hauptmagistralen ist die Infrastruktur desolat.“ Um festzustellen, mit welchen Maßnahmen sich mehr Güter auf die Schiene verlagern lassen, hat der Landkreis in Eigeninitiative eine Machbarkeitsstudie erstellen lassen. Ergebnis: Die Potenziale in den Unternehmen sind vorhanden, es sind jedoch große Anstrengungen aller Beteiligten beim erforderlichen Ausbau der Infrastruktur notwendig, die auch mit hohen Kosten verbunden sind. So wird neben organisatorischen Maßnahmen vor allem eine neue Gleisinfrastruktur in Form von Puffer-, Service- und Kreuzungsgleisen benötigt, damit neue Trassenkapazitäten erschlossen werden können. Zentrale Bedeutung haben Umschlagstellen, an denen Unternehmen ihre Güter auf die Schiene setzen und Güterzüge gebildet werden können. Rund 20.000 Lkw- Fahrten pro Jahr könnten dadurch im Landkreis vermieden werden.

Eine Grafik mit dem Titel
Bayerns Verkehrs- minister Christian Bernreiter (l.) und Denis Kollai, Lei- ter Infrastrukur der Westfrankenbahn (r.), unterzeichneten im Beisein von Landrat Jens Marco Scherf den Planungsvertrag für den Ausbau und die Elektrifizierung der Bahnstrecke Aschaf- fenburg – Miltenberg.

Bildunterschrift: Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (l.) und Denis Kollai, Leiter Infrastrukur der Westfrankenbahn (r.), unterzeichneten im Beisein von Landrat Jens Marco Scherf den Planungsvertrag für den Ausbau und die Elektrifizierung der Bahnstrecke Aschaffenburg – Miltenberg.


Jens Marco Scherf: „Aktuell kämpfen wir für die Elektrifizierung der Strecke Miltenberg – Aschaffenburg.“ Der erste Meilenstein ist geschafft: Im November haben der Freistaat Bayern und die Westfrankenbahn den Planungsvertrag für den Ausbau und die Elektrifizierung der Strecke unterschrieben. Der Freistaat investiert 17,9 Millionen Euro, um einen Halbstundentakt einführen und Direktverbindungen in das Rhein-Main-Gebiet anbieten zu können. Wichtig sei es, so Landrat Jens Marco Scherf, dabei nicht allein den Personennahverkehr in den Fokus zu nehmen, sondern auch eine regionale Schienengüterverkehrsplanung zu beginnen. Dazu müsse ein Schulterschluss zwischen Bund, Ländern, Regionalplanung und Kommunen erfolgen: „Interessenten aus dem regionalen Umfeld gibt es ausreichend, um entsprechende Pilotprojekte anzustoßen.“ „Da die konkrete Nachfrage in den Regionen entsteht, sollten die Regionen bei Planung und Finanzierung notwendiger Maßnahmen eine deutlich stärkere Rolle einnehmen können als bisher“, wünscht sich auch Georg Lennarz, Fachbereichsleiter Marktfragen Güterverkehr beim VDV.

Portrait Georg Lennarz

Da die konkrete Nachfrage in den Regionen entsteht, sollten die Regionen bei Planung und Finanzierung notwendiger Maßnahmen eine deutlich stärkere Rolle einnehmen können als bisher!


Georg Lennarz

Fachbereichsleiter Marktfragen Güterverkehr des VDV

Schiene chronisch unterfinanziert

Das Beispiel aus dem Landkreis Miltenberg, wie es aktuell um die Zugangsstellen zum Schienengüterverkehr bestellt ist und wie speziell in den Regionen die Wirtschaft bedarfsgerecht mit GLG-Anlagen und vorgelagerten Infrastrukturen ausgestattet werden kann, diskutierten rund 120 Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wirtschaft auf der 4. BME/VDV-Gleisanschluss- Konferenz in Wolfsburg. „Die Qualität der Infrastruktur entscheidet maßgeblich über die Güte des Eisenbahnbetriebs“, sagte VDV- Vizepräsident Joachim Berends. Mit Blick auf die chronische Unterfinanzierung der Schieneninfrastruktur ist deren Sanierung allerdings eine beispiellose Herausforderung, wie Michael Jungk, Leiter der Sektion Supply Chain Management und Logistik im Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) betonte. Von essenzieller Bedeutung seien dabei die Gleisanschluss- und Ladestellen, die einen Gütertransport auf der Schiene erst ermöglichen und so gleichzeitig auch zum Erreichen der Klimaziele beitragen. Durch die Gleisanschluss-Charta, so VDV und BME, stelle man sicher, dass dieses Thema auf der politischen Agenda bleibt.

Portrait Joachim Berends

Die Qualität der Infrastruktur entscheidet maßgeblich über die Güte des Eisenbahnbetriebs!


Joachim Berends

VDV- Vizepräsident

Erhebliche Zugangslücken in der Fläche

Eine aktuelle Bestandsaufnahme zu den Gleisanschlüssen und multimodalen Verladestellen in Deutschland lieferte Dr. Axel Müller, Referatsleiter in der Bundesnetzagentur. Nach den Erhebungen der Infrastrukturbehörde gibt es aktuell 108 Unternehmen, die als klassische Hafenbahnen über Schienenanschlüsse in 27 Seehäfen und 119 Binnenhäfen verfügen. KV-Terminals für den Umschlag von Containern, Wechselbrücken oder Sattelaufliegern werden von 129 Unternehmen an 172 Standorten betrieben, darunter 89 in Häfen. Das Schienenangebot der 193 Betreiber konventioneller Terminals, in denen beispielsweise Holz, Stahl, Betonteile oder Agrarprodukte auf die Schiene verladen werden, umfasst 765 Standorte. Für Industrie- unternehmen sind speziell die 1.359 Werksbahnen für den Gütertransport auf der Schiene wichtig. Sie verfügen über 2.060 Standorte in Deutschland, wobei aber längst nicht alle aktiv genutzt werden. Axel Müller: „An rund einem Drittel dieser Standorte passiert momentan nichts – entweder sind sie gar nicht betriebsbereit oder sie werden wegen fehlender Umschlagmengen nicht genutzt.“ Die Zahlen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Fläche nach wie vor erhebliche Zugangslücken gibt, die den Umstieg auf die Schiene verhindern. Das hat auch die EU erkannt und das Projekt Rail4Regions initiiert. „Es geht dabei um die Verbesserung der Planungsinstrumente sowie die Verknüpfung der Bedarfe der Verlader und der Raumentwicklung und ländlichen Planung“, erläuterte Prof. Dr. Michael Lehmann, Direktor des Instituts Verkehr und Raum der Fachhochschule Erfurt, die einer der EU- Projektpartner ist. Das im Februar 2023 gestartete Projekt soll im Januar 2026 abgeschlossen werden und im Ergebnis den Verantwortlichen aus den Bereichen Verkehr und Raumplanung umfassende Planungsinstrumente an die Hand geben, um den Schienengüterverkehr in den Regionen durch Anschlussgleise, wiederverwendete Neben- und Zubringerstrecken, verbesserte Verladeinfrastruktur und die Förderung des Einzelwagenverkehrs zu entwickeln.

Gleisanschluss-Charta

Zu Beginn des Jahres wurde die Gleisanschluss- Charta 2024 an die Bunderegierung und an Abgeordnete des Deutschen Bundestags übergeben. Sie unterbreitet in 17 Handlungsfeldern insgesamt 110 Maßnahmenvorschläge. 59 Verbände, Vereinigungen und Initiativen aus dem Bereich Industrie, Handel, Logistik, Bauwesen, Agrar, Holz, Recycling und Kommunen haben die Charta mitgezeichnet und circa 200 Unternehmen und Institutionen haben sich als Unterstützer registrieren lassen.

Mehr Informtionen dazu:

www.gleisanschluss-charta.de

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