Aus dem Verband
Branche vernetzt sich
Der nächste große Schritt bei der Vernetzungsinitiative „Mobility inside“ ist getan: In diesem Frühjahr haben neun Verkehrsunternehmen und -verbünde einen „Letter of intent“ unterschrieben und damit offiziell eine Führungsrolle in dem Projekt übernommen. Das beinhaltet unter anderem die Gründung einer Management-Gesellschaft. Und auch die technische Entwicklung schreitet voran.
Mit nur einer App soll der Kunde eine durchgehende Reisekette quer durch Deutschland planen, buchen und bezahlen – oder sich an den Kundenservice wenden können: Diese Vision treibt die Verkehrsbranche schon seit Jahren um. Und mit „Mobility inside“ arbeiten der VDV und seine Partner derzeit an der Umsetzung einer solchen multimodalen Plattform, die genau das ermöglicht. Auf der VDV-Jahrestagung 2017 wurde das Projekt erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Danach wurde es ruhiger um die Vernetzungsinitiative. „Das heißt aber nicht, dass nichts passiert ist“, sagt VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff. „Im Gegenteil: Wir haben das Thema entschieden vorangetrieben.“ Schließlich gehe es auch um den Direktzugang zum Kunden. Schaffe es die Branche auf absehbare Zeit nicht, eine flächendeckende und durchgängige E-Ticket-Lösung zu entwickeln, drohe die EU, den Markt für Drittanbieter wie Uber zu öffnen, so Wolff. „Deswegen ist ‚Mobility inside‘ unsere letzte Chance, die digitale Transformation selbst anzugehen und ‚der‘ Komplettanbieter für öffentliche Mobilität zu bleiben.“
Vergaberechtliche Hürden
Deutliches Signal für den Projektfortschritt aus seiner Sicht: der Letter of intent, den neun Partner im April unterschrieben haben – namentlich die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft, die Bogestra, die Deutsche Bahn, die Stadtwerke Dortmund, die Leipziger Verkehrsbetriebe, die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG), der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV), die Rhein-Neckar-Verkehr GmbH sowie die Stuttgarter Straßenbahnen AG. Mit ihrer Unterschrift haben sie sich bereit erklärt, eine Führungsrolle bei „Mobility inside“ zu übernehmen und unter anderem sämtliche Aktivitäten im digitalen Vertrieb zu bündeln.
Auch die Gründung einer Management-Gesellschaft sei damit auf den Weg gebracht, erklärt Till Ackermann. „Ein Meilenstein“, so der VDV-Fachbereichsleiter Volkswirtschaft und Business Development. Ziel von „Mobility inside“ sei es, eine Plattform-Architektur zu schaffen, die jedes Verkehrsunternehmen nach eigenem Bedarf einsetzen kann, um seinen Kunden ein durchgängiges digitales Angebot zu bieten (siehe Infokasten "Drei Optionen für Verkehrsunternehmen"). Die Plattform arbeitet dabei im Hintergrund und vernetzt unter anderem die existierenden Anwendungen der teilnehmenden Verkehrsunternehmen miteinander. Nach außen nutzt der Kunde weiter die App seines vertrauten ÖPNV-Anbieters vor Ort.
Damit diese Vision verwirklicht werden kann, müssen die Partner allerdings nicht nur technische, sondern auch vergaberechtliche Hürden bewältigen. So sollen sich Verkehrsunternehmen „Mobility inside“ problemlos anschließen können – ohne die Plattform ausschreiben zu müssen. „Das würde nämlich schnell zu einer Vielzahl von Einzellösungen führen, und genau das wollen wir vermeiden“, erklärt Ackermann. „Deswegen haben sich die Beteiligten nun für eine GmbH & Co. KG entschieden.“ Die neun sogenannten „First Mover“ werden demnach Komplementäre und nehmen die damit einhergehenden finanziellen Verpflichtungen auf sich – die noch ausstehende Zustimmung ihrer jeweiligen Gremien vorausgesetzt. Weitere Verkehrsunternehmen können sich als Kommanditisten engagieren. Kleinere Betriebe, die sich nur in geringem Maße beteiligen wollen oder können, sollen niedrigschwellig über einen Teilnahmeverein eingebunden werden. „Das ist vergaberechtlich wirklich komplex, aber die sogenannte Inhousefähigkeit ist zentral“, bilanziert Ackermann. „Grundsätzlich kann man sagen: Die geplante Gesellschaft muss jedem gehören, der mitspielen will.“
Drei Optionen für Verkehrsunternehmen
ÖV-Unternehmen mit eigener Plattform: Wer schon eine geeignete Plattform hat, kann selbst Teil des „Mobility inside“-Hintergrundsystems werden und so die Verknüpfung mit anderen ermöglichen. Der Kunde kann somit eine durchgehende Reisekette planen und buchen.
Unternehmen ohne eigene Plattform: Diese Lösung richtet sich an ÖV-Betriebe, die noch keine digitalen Produkte anbieten. Sie können „Mobility inside“ als Full-Service-Modell übernehmen.
Zwischenlösung: Diese ist für Unternehmen gedacht, die sich beim E-Ticketing zwischen den Erstgenannten befinden. Sie können die gemeinsame App und das Hintergrundsystem nutzen und einzelne Bausteine zu ihrer eigenen Lösung hinzufügen.
Egal, welche Option gewählt wird: Die jeweilige Unternehmensmarke bleibt immer der Absender des gemeinsamen Services. Auch die Tarifhoheit obliegt weiter den ÖV-Unternehmen.
www.mobilityinside.de
VDV-Hauptgeschäftsführer Wolff lobt vor diesem Hintergrund die Unterzeichner der Absichtserklärung, die das Projekt und ihr Engagement auch auf der VDV-Jahrestagung in Potsdam vorgestellt haben. „Das war eine wichtige Willenserklärung, ein Zeichen, dass sie bereit sind voranzugehen“, so Wolff. „Die First Mover bilden den Kern, an den sich alle anderen andocken können. Dementsprechend laden wir alle anderen Verkehrsunternehmen ein, sich ebenfalls zu beteiligen.“
Echtzeitinfos auch aus der Fläche
Bis das System marktreif ist, bleibt jedoch noch viel zu tun. Die Projektleitung teilen sich dabei die VDV-Tochter Infra Dialog Deutschland GmbH sowie die RMV-Tochter Rhein-Main-Verkehrsverbund Servicegesellschaft (RMS, siehe auch Interview weiter unten).
Was die technische Weiterentwicklung von „Mobility inside“ angeht, gelte es derzeit vor allem, auch die „Fläche zu befähigen“, erklärt zudem Martin Weis, Technischer Projektmitarbeiter für „Mobility inside“ bei der Infra Dialog Deutschland. „Dies ist eine unserer Kernaufgaben. Das System muss auch im ländlichen Raum funktionieren, von dort aus Echtzeitinformationen liefern und diese mit den Daten aller anderen Verkehrsunternehmen bundesweit zusammenbringen.“ Dafür müssen vor Ort die technisch-infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen werden. Um dieses Teilprojekt voranzubringen, reist Weis derzeit quer durch die Republik und führt Gespräche mit den Verkehrsunternehmen.
Ob und wie alles funktioniert, soll bald in einem Pilotversuch in Bayern getestet werden. Erste Treffen mit den regionalen Partnern sowie dem Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr haben bereits stattgefunden, so Kilian Kärgel, Digitalisierungsbeauftragter der Landesgruppe Bayern im VDV. Entwickelt wird das Zielbild des Piloten durch die projektleitende MVG sowie den Münchner Verkehrs- und Tarifverbund, die Nürnberger VAG, den VGN aus Nürnberg, die DB, die Bayerische Eisenbahngesellschaft sowie die VDV-Tochter E-Ticket Service. Ziel sei es, die Ergebnisse des Piloten zeitnah auf ganz Deutschland anzuwenden. Die Verkehrsbetriebe aus Augsburg, Ingolstadt und Regensburg sind als Beobachter eingebunden. „Wenn der Prototyp bei uns in Bayern funktioniert, wäre er schnell auf ganz Deutschland übertragbar“, zeigt sich Kärgel überzeugt. Als ÖV-Branche im digitalen Vertrieb die Oberhand zu behalten, sei dabei nur ein Punkt. „Vor allem geht es darum, kundenzentriert zu arbeiten. Wir wollen Mobilität ganz einfach machen – damit der Kunde alle Verkehrsmittel problemlos kombinieren kann.“
Interview
Anderen nicht den Markt überlassen
Der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) ist einer von neun Initiatoren, die mit einem Letter of intent den nächsten Schritt bei „Mobility inside“ eingeläutet haben. Mit Prof. Knut Ringat (Foto), RMV-Geschäftsführer und VDV-Vizepräsident, sprach „VDV Das Magazin“ über die Bedeutung des Projekts.
Der RMV ist einer von neun Partnern, die sich an der Gründung der Managementgesellschaft beteiligen. Was war Ihre Motivation?
»Prof. Knut Ringat: Unsere Fahrgäste wollen einfach und komfortabel von A nach B, aber in Deutschland haben wir Dutzende Verbund- und Unternehmenstarife. Wenn jemand quer durchs Land reist, muss er viele Apps nutzen, um für jeden Abschnitt die richtige Fahrkarte zu kaufen. „Mobility inside“ ist eine Plattform, die über Schnittstellen auf die Tarife zugreift und am Ende des Monats dem Fahrgast eine Gesamtrechnung über alle Fahrten ausstellt. In Zukunft soll die Plattform zudem viele Services des Alltags integrieren. Außerdem ist das System längst überfällig: Wenn nicht wir, die ÖPNV-Branche, bald anbieterübergreifend Fahrkarten anbieten, werden es andere tun.
Mit dem Letter of intent hat „Mobility inside“ einen wichtigen Schritt nach vorn gemacht. Wie lautet Ihr Zwischenfazit und wie geht es nun weiter?
» Der Letter of intent zeigt, dass die Branche „Mobility inside“ als eine Riesenchance versteht, die wir jetzt ergreifen müssen. Auch die Politik steht hinter dem Projekt: Das Vorhaben ist im Koalitionsvertrag verankert und soll mit 50 Millionen Euro gefördert werden. Außerdem unterstützt die Verkehrsministerkonferenz das Branchenvorhaben mit einer abgestimmten Förderkulisse. Wir haben also schon sehr viel erreicht. Im nächsten Schritt bauen wir mit Gründung der Entwicklungs- und Betriebsgesellschaft schlagkräftige Arbeitsstrukturen auf, in die wir möglichst schnell weitere Branchenpartner aufnehmen wollen. Parallel entwickeln wir die Technik weiter.
Die Verkehrsunternehmen sollen auch bei „Mobility inside“ die Tarifhoheit behalten. Gleichzeitig testet nicht nur der RMV entfernungsbasierte Tarife. Ist so etwas irgendwann bundesweit denkbar?
» „Mobility inside“ ist eine wesentliche Antwort auf die aktuelle Forderung nach einem Deutschland-Tarif, weil die Plattform ein Ticket aus einer Hand bietet, das bundesweit gekauft werden kann. Dabei wird eine Fahrt in Abschnitte zerlegt, die im Hintergrund getrennt nach dem jeweils zuständigem Verkehrsverbund oder -unternehmen abgerechnet werden.
Mit RMVsmart testet der RMV seit 2016 einen entfernungsbasierten Tarif. Wenn ein solcher Tarif über Schnittstellen in „Mobility inside“ einbezogen wird, werden unsere Fahrgäste ihn auch nutzen können. Das Tolle an „Mobility inside“ ist ja, dass die Technik eine Bestpreisabrechnung erlaubt. So ist es letztlich für den Fahrgast egal, ob die Fahrtabschnitte nach Zone oder einem entfernungsbasierten Tarif abgerechnet werden.
„Mobility inside“ ist die Chance für eine brancheneigene Plattform. Aber auch andere Anbieter sind interessiert. Was würde es bedeuten, wenn Global Player wie Google in den Vertrieb einsteigen?
» Mit „Mobility inside“ bestimmen die Branchenunternehmen gleichberechtigt und in direktem Kontakt mit ihren Kunden die Spielregeln. Damit sind diejenigen am Zug, die den ÖPNV produzieren, und nicht Vertreter der Plattform-Ökonomie oder anderer Branchen. Denken Sie an die Hotelbranche. Hier stehen zwischen Gast und Hotel Plattformen wie booking.com oder HRS. Das bedeutet Abhängigkeit und vor allem auch, dass ein Teil der Einnahmen nicht dort landet, wo wir sie für die Busse und Bahnen brauchen: bei uns.
Außerdem ist „Mobility inside“ ein cleveres System, das anderen Systemen eine wichtige Sache voraus hat: Es belässt die Kundendaten bei den jeweiligen Partnern und bindet lediglich die Dienstleistung, also die Wegekette, durch. Dabei tritt „Mobility inside“ gleich einem Makler für den Teil der vom Kunden gewünschten Wegekette ein, welche nicht im Unternehmen oder Verbund erbracht wird, wo das Ticket erworben wird. Andere Anbieter zielen darauf, die Kundendaten an zentrale Hintergrundsysteme zu binden und für eigene Interessen zu nutzen, die nicht die des ÖPNV sein müssen. Wenn man dort partizipieren möchte, gibt man das Vertrauen der Kunden in unsere ÖPNV-Systeme an Fremde ab.
Der RMV engagiert sich unter anderem über seine Service-Tochter RMS. Wie genau sehen die Tätigkeiten von RMS aus?
» Unsere Tochter ist ein großer Branchendienstleister. Das Tätigkeitsfeld erstreckt sich vom klassischen Call-Center über IT-Lösungen für unser E-Ticket-Hintergrundsystem bis hin zu unseren Bundesforschungsprojekten wie „Einsteigen und Losfahren“ oder jetzt „Mobility inside“, wo die Tarife aller Partner auf ein einheitliches Datenniveau gebracht werden. Wir haben zur Unterstützung von „Mobility inside“ die RMS-Tochtergesellschaft Mobilligence gegründet. Diese zielt darauf ab, die Verkehrsunternehmen vor Ort zu unterstützen und die technischen Voraussetzungen zur Beteiligung an der Vernetzungsinitiative zu schaffen.