Infrastruktur
20.09.2024

Aufholjagd der Schiene

Engpässe beseitigen, Betriebsabläufe verbessern, Fehlentscheidungen vergangener Zeiten korrigieren: Während die Deutsche Bahn aktuell im Rahmen eines groß angelegten Programms die Hauptstrecken saniert, hat die Schieneninfrastruktur generell und bundesweit in vielen Regionen einen massiven Nachholbedarf. Die Verkehrsbranche hat unter der Federführung des VDV in ihrer zum zehnten Mal erstellten Maßnahmenliste über 800 Vorschläge für eine Optimierung des Systems Bahn gemacht.

4.000

Kilometer

Strecke elektrifizieren –
das würde sich laut VDV-Massnahmenliste lohnen.


Der Abzweig Osterrönfeld an der zweigleisigen Hauptstrecke von Neumünster nach Flensburg, wenige Kilometer südlich der stählernen Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal in Rendsburg, ist Beginn und Endpunkt der eingleisigen Schienenverbindung nach Kiel. Fast ein Jahrzehnt schon pendeln hier Dieseltriebzüge der Regionalbahnlinie RB 75 im Stundentakt zwischen Rendsburg und der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt. Der Fahrplan ist so konstruiert, dass sich die Züge im kurzen zweigleisigen Abschnitt der Hauptstrecke zwischen Osterrönfeld und Rendsburg begegnen. Eine weitere Ausweichstelle unterwegs gibt es nicht. Die Konsequenz: Bei Verspätungen auf der eingleisigen Strecke muss der Gegenzug vor der Einfahrt warten und gerät ebenfalls aus dem Fahrplantakt. Auch auf der Hauptstrecke fallen die Signale für Regional- und Fernzüge dann immer wieder auf Rot.

Nebenstrecken können für den lang­laufenden Güterverkehr zu wichtigen Alternativrouten werden.

Eine unbefriedigende Situation, die hier nur beispielhaft beschrieben ist. Sie wiederholt sich vielfach an vielen Stellen in den Netzen der Deutschen Bahn und der nicht bundeseigenen Eisenbahnen. Es sind typische Engpass-Situationen mit ärgerlichen Auswirkungen auf die Verkehrsleistung der Schiene. In Osterrönfeld könnte der Einbau zweier Weichen und die Versetzung von zwei Signalen etwas mehr Spielraum ins System bringen, sprich: den Schienennahverkehr flüssiger, zuverlässiger und damit attraktiver machen. Kostenpunkt laut Schätzung des Maßnahmenkatalogs: rund zwei Millionen Euro. Angesichts der Milliardeninvestitionen, die die Eisenbahninfrastruktur fit machen müssen für mehr Verkehr auf der Schiene, eher eine Kleinigkeit.

Wir brauchen umgehend eine klare Rechts- grundlage und eine perspektivische ­Erweiterung des jährlichen Haushaltsrahmens auf ­mindestens 150 Millionen Euro.

Veit Salzmann
VDV-Vizepräsident
zum Haushaltstitel „Engpassbeseitigung
und Umsetzung Deutschlandtakt“

Knoten sind die neuralgischen Punkte

Ein weiteres, ebenfalls typisches Problem des Schienennetzes: Während auf der Straße Autobahnringe um die Großstädte und Umgehungsrouten selbst für kleinere Gemeinden weithin selbstverständlich sind, muss sich die Bahn durch ihre überlasteten Knoten quälen. Dabei gibt es Ausweichstrecken, doch sie taugen nicht immer für zügige Entlastungen. Auch dafür ein Beispiel aus dem Norden: Von Lübeck gibt es über Büchen an der Strecke Hamburg – Berlin bis nach Lüneburg eine eingleisige Strecke. Die Maßnahmenliste schlägt vor: zweigleisiger Ausbau, Elektrifizierung mit dem Ziel, den Knoten Hamburg vor allem vom internationalen Nord-Süd-Güterverkehr zu entlasten. Denn der wird zunehmen, wenn die Tunnel-Querung des Fehmarnbelt zwischen Puttgarden und Rödby im Zuge der „Vogelfluglinie“ in einigen Jahren fertiggestellt ist.

„Nutzung der Strecke zur Schaffung von Alternativrouten für den langlaufenden Güterverkehr im Nord-Süd-Korridor“ ist beispielsweise auch zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern ein Thema. Dort führt die Bahnlinie von Lübeck nach Schwerin in Bad Kleinen nordwärts Richtung Rostock. Eine zusätzliche Verbindungskurve nach Süden an die Strecke nach Schwerin und weiter Richtung Wittenberge würde hier ebenfalls Trassen für Güterzüge zwischen dem Norden und Süden Europas herstellen. Vergleichbar ein Projekt in Oberbayern: die Elektrifizierung und der zweigleisige Ausbau der Strecke Rosenheim – Mühldorf würde für den Güterverkehr auf der Brenner-Route eine Umgehung des Knotens München schaffen.

Um schnellere Zugfolgen zu ermöglichen, sollen beispielsweise die Kapazitäten der Hohenzollernbrücke in Köln für den S-Bahn- und Regionalverkehr ausgeweitet werden.

Der Knoten Hamburg ist darüber hinaus ein besonders neuralgischer Punkt im Netz, für den der Katalog der Branche eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen vorsieht – unter anderem die weitere Untertunnelung des Hamburger Hauptbahnhofs für die Verlagerung des S-Bahn-Bahnsteigs aus der Halle in die Tieflage. Spektakulär ist der Vorschlag, vom Rangierbahnhof Maschen südlich von Hamburg-Harburg eine völlig neue Verbindung nach Hamburg-Altona zu schaffen und dafür die Elbe fast 40 Meter tief zu untertunneln. Ein ganz anderes Tunnel-Problem stellt sich im Mittelrheintal in Rheinland-Pfalz. Auf der linken Rheinstrecke sind die drei Tunnel gegenüber der Loreley sanierungsbedürftig. Statt einer aufwändigen Erneuerung wird vorgeschlagen, die Bahnlinie durch völlig neue Röhren parallel zu führen.

Kreuzungsfrei ein- und ausfädeln

Mehr als die Hälfte der in der Liste enthaltenen Maßnahmen sind mit vergleichsweise geringem Mitteleinsatz realisierbar.

Joachim Berends
VDV-Vizepräsident 

Schwierig ist auch die Situation im Knoten Köln. Neben zahlreichen kleineren Maßnahmen gibt es hier ebenfalls ein Großprojekt: den Bau einer Westspange. Um das S-Bahn-Netz in Richtung Bonn und Eifel ausbauen zu können, soll die heute schon viergleisige Strecke mitten durch die Stadt auf sechs Gleise erweitert werden. Auch für die Hohenzollernbrücke, die sechsgleisig über den Rhein führt, gibt es Überlegungen, insbesondere im S-Bahn- und Regionalverkehr die Kapazitäten zu verbessern. Hinzu kommen im Großraum Köln zahlreiche kleinere Maßnahmen, wie sie bundesweit auch an vielen anderen Stellen in der Schieneninfrastruktur empfohlen werden. Häufig sind es kreuzungsfreie Ein- und Ausfädelungen sich verbindender und sich trennender Strecken, nicht selten der Bau zusätzlicher Bahnsteige, etwa um Überholungen durch schnellere Züge zu ermöglichen. Und die Installation moderner Leit- und Sicherungstechnik schafft die Möglichkeit für schnelle Zugfolgen im Abstand weniger Minuten; damit erhöht sich die Kapazität der Strecken. Zwischen Köln Hauptbahnhof und dem Bahnhof Messe-Deutz auf der anderen Rheinseite soll dann auf jedem Gleis alle zweieinhalb Minuten ein Zug rollen können.

Millionen statt
Milliarden

Angesichts der Vielzahl von über 800 vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Bahninfrastruktur betont VDV-Vizepräsident Joachim Berends, dass es sich keinesfalls um Maximalforderungen in Milliardenhöhe handelt: „Mehr als die Hälfte der in der Liste enthaltenen Maßnahmen sind mit vergleichsweise geringem Mitteleinsatz realisierbar. Es handelt sich hierbei um kleine und mittlere Vorhaben, die im Vergleich zu den großen Projekten des Bedarfsplans für den Ausbau der Bundesschienenwege wesentlich schneller und effizienter umgesetzt werden können.“

Gleichwohl fordert der VDV eine deutliche Erhöhung der Haushaltsmittel für den Titel „Engpassbeseitigung und Umsetzung D-Takt“ im Bundeshaushalt 2024. VDV-Vizepräsident Veit Salzmann: „Wir haben blinde Flecken im Netz. Viele kleine und mittlere Maßnahmen, die notwendig sind, um einen modernen Infrastrukturstandard und ein attraktives Schienenangebot zu gewährleisten, fallen weiterhin durchs Raster. Wir brauchen umgehend eine klare Rechtsgrundlage und eine perspektivische Erweiterung des jährlichen Haushaltsrahmens auf mindestens 150 Millionen Euro.“

Vielfach ist in den letzten Jahrzehnten Infrastruktur abgebaut worden, die in der Epoche der individuellen Vollmotorisierung entbehrlich schien: Gleise, Weichenverbindungen, Abstell- und Begegnungsmöglichkeiten. Als Negativbeispiel wird etwa die Strecke von Halle nach Halberstadt in Sachsen-Anhalt aufgeführt: Nach dem Rückbau von Kreuzungsmöglichkeiten sei die Streckenkapazität gesunken, und die Pünktlichkeit habe sich „drastisch verschlechtert“, heißt es in dem Papier. Gefordert wird ein – zumindest – teilweise zweigleisiger Ausbau.

In der Maßnahmenliste sind zahlreiche Vorschläge in allen Bundesländern zusammengestellt, um mit Blick auf das wachsende Verkehrsaufkommen und die Vorbereitungen für die Pläne des Deutschlandtaktes die nötigen Kapazitäten zu schaffen. Das beginnt bei der Wiedereinrichtung vor Jahrzehnten abgeschaffter Kreuzungsbahnhöfe und führt über den Bau von Haltepunkten an neu entstandenen Siedlungsgebieten hin zum zweigleisigen Ausbau von Strecken für attraktive Taktfahrpläne. Immer wieder wird in dem Katalog vorgeschlagen, die Elektrifizierung des Netzes voranzutreiben. Mal sind es nur wenige Kilometer, um eine Lücke zu schließen. Mal ganze Streckenäste, die noch das Revier von Dieselzügen sind. Überschlägig kommt die Maßnahmenliste auf über 4.000 Kilometer, die sich nach Auffassung der Branche allemal für elektrischen Betrieb lohnen.

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