Elektrifizierung ohne lange Leitung
Schleswig-Holstein sagt in weiten Teilen „Moin“ zum batterieelektrischen Antrieb und „Tschüss“ zu älteren Dieseltriebwagen. Bei der Elektrifizierung des Schienenpersonennahverkehrs holen das Land und sein Aufgabenträger NAH.SH kräftig auf. Schrittmacher der Antriebswende ist eine Flotte aus 55 fabrikneuen Akkutriebzügen, die ihre Batterien unterwegs oder an bestimmten Stationen mit Ökostrom aufladen können. Die Einspareffekte beim Kraftstoff und bei den CO₂-Emissionen sind enorm. „VDV Das Magazin“ fuhr auf der Premierenstrecke mit.
Kiel Hauptbahnhof, an einem nassen, windigen Morgen Anfang Oktober: Für echte Norddeutsche herrscht zwar noch kein „Schietwetter“, aber zumindest eine Vorstufe davon. Am Gleis 2b macht Triebfahrzeugführer Christian Sachse seinen Zug bereit für die Abfahrt. Anders als bei anderen elektrisch betriebenen Fahrzeugen senkt sich an dem tiefblauen Triebwagen mit den türkisfarbenen Türen der Stromabnehmer, bevor es losgeht. Doch zunächst – wie immer um fünf nach voll – nimmt am benachbarten Gleis 1 am selben Bahnsteig eine Regionalbahn mit lautem Röhren und meterhoher Abgasfahne Fahrt auf, hinaus aus der dreischiffigen Bahnhofshalle in den Regen Richtung Lübeck.
Zukunft und Vergangenheit liegen hier eng beieinander. Denn dieses Geräusch- und Geruchserlebnis wird immer seltener. Wenige Minuten später setzt auch Christian Sachse seinen Zug in Bewegung – ohne Ruckeln, fast lautlos und komplett emissionsfrei. Ziel ist das nur sieben Kilometer entfernte Oppendorf. Kurz, aber bedeutend: Von dieser Strecke geht die Antriebswende im Schienennahverkehr Schleswig-Holsteins aus. Im hohen Norden wird es in den Stationen und entlang der Gleise künftig deutlich leiser, und die Luft bleibt frisch. In drei Teilnetzen sollen neue Akkutriebwagen die alten Dieselzüge klimafreundlich ersetzen.
Triebfahrzeugführer Christian Sachse im Führerstand eines Flirt Akku (Foto l.). Generationswechsel: Akkuzüge lösen die roten Dieseltriebwagen nach und nach ab (Foto r.).
Den Auftakt machte Anfang Oktober das Eisenbahnverkehrsunternehmen Erixx Holstein mit einem Fahrzeug zwischen Kiel und Oppendorf. Hier erlebte der „Flirt Akku“ seine Premiere im Fahrgastbetrieb. Mittlerweile stellt Erixx Holstein auch die Verbindung von Kiel über Lübeck nach Lüneburg schrittweise um. In allen Umläufen sollen bis Ende Februar kommenden Jahres 26 Akkuzüge vollständig im Einsatz sein. Auch an der Westküste beginnt noch 2023 die Ära der batterieelektrischen Züge. Zum Fahrplanwechsel im Dezember nimmt die Nordbahn ihre ersten Akkutriebwagen zwischen Büsum und Heide in Betrieb, später auf ihren anderen Strecken.
Bis zum Sommer 2024 sollen alle 55 Züge ausgeliefert und im ganzen Bundesland unterwegs sein. Auf diese Weise werden etwa 40 Prozent des gesamten Zugverkehrs in Schleswig-Holstein batterieelektrisch und mit Ökostrom gefahren – etwa 10,4 Millionen Kilometer. Laut Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein (NAH.SH) können demnächst jährlich zehn Millionen Liter Diesel eingespart und 26.000 Tonnen CO2 vermieden werden. „Wir machen einen riesigen Schritt hin zum emissionsfreien Nahverkehr mit den 55 Akkuzügen“, sagt Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Claus Ruhe Madsen: „Auf unsere Vorreiterrolle können wir wirklich stolz sein.“
Land investiert 600 Millionen Euro
Schienenfahrzeuge sind ohnehin sehr energieeffizient und klimafreundlich, doch nun geht es darum, den SPNV in Schleswig-Holstein bis 2030 klimaneutral zu gestalten. Im bundesweiten Vergleich rangierte das „Dieselland“ bis zuletzt auf den hinteren Plätzen, wenn es um den Elektrifizierungsanteil geht. Demnächst werden fast 70 Prozent aller Strecken in Schleswig-Holstein elektrisch befahren. Zum Vergleich: In Deutschland sind derzeit 62 Prozent des staatlichen Eisenbahnnetzes elektrifiziert, werden die nichtbundeseigenen Bahnen hinzugerechnet, sogar nur etwa 50 Prozent. Mit den Akkuzügen katapultiert sich Schleswig-Holstein NAH.SH zufolge nun auf Platz zwei der Flächenländer hinter das Saarland, das einen Elektrifizierungsanteil von 81 Prozent aufweist. Für Fahrzeuge und Instandhaltung nimmt das Land Schleswig-Holstein rund 600 Millionen Euro in die Hand. Diese Summe ist auf die kommenden 30 Betriebsjahre angelegt und wird über die Verkehrsverträge abgerechnet. Die Züge gehören der Paribus Holding, an die die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) Nutzungsgebühren bezahlen, um die Züge fahren zu können. Das Land wiederum zahlt den EVU für die erbrachten Leistungen Geld aus den Regionalisierungsmitteln. Zum Paket gehört auch ein neues Werk, das der Zughersteller Stadler derzeit für 30 Millionen Euro in Rendsburg baut. Die Anlagen sind speziell auf die Erfordernisse der innovativen Akkuzüge ausgerichtet – etwa für die Behandlung, Ladung und Lagerung der Batterien. Bis das in Deutschland zunächst einzigartige Werk im Frühjahr 2024 eingeweiht wird, werden die Fahrzeuge im Kieler Süden auf ihre Einsätze vorbereitet.
An diesem nasskalten Morgen benötigt Triebfahrzeugführer Christian Sachse besonderes Fingerspitzengefühl, um die Kraft seines spurtstarken Zuges trotz eingebauten Gleitschutzes gut auf die rutschigen Gleise zu bringen. In seinem Führerstand und im Fahrgastraum riecht alles neu. Mit an Bord befindet sich heute Ruth Niehaus, Projektleiterin bei NAH.SH. Dass das Akkunetz nun hochgefahren wird, ist auch das Ergebnis ihrer jahrelangen Arbeit. Ruth Niehaus und ein vierköpfiges Team bilden die Schnittstelle zwischen dem Land und den beteiligten Partnern: den Verkehrsunternehmen Erixx Holstein und Nordbahn, den Infrastrukturbetreibern DB Netz und Altona-Kaltenkirchen-Neumünster Eisenbahn GmbH (AKN), dem Hersteller Stadler, der Leasinggesellschaft Paribus Holding sowie den niedersächsischen Kolleginnen und Kollegen von der Landesnahverkehrsgesellschaft LNVG, in deren Bereich ein Teil der Linie Lübeck – Lüneburg fällt.
„Ich habe mich von Anfang an nicht gelangweilt“, schmunzelt Ruth Niehaus, die 2019 zu NAH.SH kam. In ihrem Projekt werden zahlreiche Aufgaben im Zusammenhang mit der Herstellung, Instandhaltung und Inbetriebnahme der Triebzüge bis ins Detail koordiniert – etwa, wo die Fahrzeuge ihre Pantografen an die Oberleitung heben dürfen und dass ein entsprechender Hinweis für das Fahrpersonal in das Fahrplansystem der DB aufgenommen wird. Dass der Wind in unterschiedlichen Stärken von vorne kommt – Pandemie, Lieferschwierigkeiten, verspätete Zulassung der Züge, fehlendes Personal bei den Verkehrsunternehmen – hat Ruth Niehaus in den vergangenen Jahren erlebt, aber das dürfte bei einem Projekt dieser Größenordnung wohl dazugehören.
Laden unter der Oberleitung und Batteriebetrieb ohne Fahrdraht
Flirt Akku: Die batteriebetriebene Ausführung des „Flinken Leichten Innovativen Regional-Triebzugs“ fährt klassisch mit Stromabnehmer unter Fahrdraht oder im Batteriemodus.
Betrieb mit weltweit erster Flotte ihrer Art
Mit einer Verzögerung von fast einem Jahr konnten die Akkuzüge schließlich starten. Die Technik ist innovativ, und das Land Schleswig-Holstein betritt bundesweit Neuland dabei, eine Zugflotte im großen Stil auf eine neue Antriebsform umzustellen. Vielleicht sucht das Projekt überhaupt seinesgleichen. Laut Stadler handelt es sich um die weltweit erste batterieelektrische Zugflotte mit moderner Lithium-Ionen-Akkutechnologie im regelmäßigen Linienbetrieb. Um eventuellen betrieblichen Problemen von vornherein zu begegnen, haben das Land und NAH.SH bei DB Regio eine sogenannte Transferflotte mit Dieseltriebzügen vom Typ „Lint“ als Reserve angemietet. Sie fahren auf einzelnen Strecken, bis alle 55 Akkuzüge im Einsatz sind.
Nach monatelangem Schienenersatzverkehr aufgrund von Personalmangel gelang Erixx Holstein ein Neustart auf der Strecke von Kiel nach Oppendorf. Die Fahrgäste freuen sich nicht nur über die komfortablen, zweiteiligen Züge mit ihren 123 Sitzplätzen, sondern auch über eine um fast 20 Minuten kürzere Reisezeit als mit dem Bus. Vom Start weg lief der Zugbetrieb stabil, nennenswerte Störungen gab es in den ersten Wochen nicht. Mehr Laufruhe und Beinfreiheit, WLAN sowie Steckdosen mit USB-Anschlüssen an allen Plätzen, Mehrzweckflächen für Rollstühle, Kinderwagen und Fahrräder sowie ein modernes Fahrgastinformationssystem und ein eigenes Lichtkonzept: Damit sollen die Akkutriebzüge punkten und mehr Menschen vom Nahverkehr auf der Schiene überzeugen.
Kundinnen und Kunden profitieren zudem von einer verbesserten Infrastruktur. 14 Stationen wurden modernisiert und barrierefrei ausgebaut, zwei weitere folgen bis Anfang 2024. Bis Ende dieses Jahres sollen in Schleswig-Holstein nahezu 90 Prozent der Stationen barrierefrei sein. Bevor die Akkutriebwagen an den Start gehen konnten, musste auch die Energieinfrastruktur an das neue Betriebskonzept angepasst werden. Die Züge benötigen nur kurze elektrifizierte Streckenabschnitte oder einzelne Bahnhöfe mit Oberleitung, um unterwegs oder bei fahrplanmäßigen Halten nachzuladen. In Heide, Husum und Tönning sollen bis Dezember sogenannte Oberleitungsinseln samt Unterwerken größtenteils fertiggestellt werden, über die aus dem Netz der örtlichen Stadtwerke der Strom für die Züge eingespeist wird. Insgesamt mussten lediglich elf Kilometer neue Oberleitungen gebaut werden (siehe Karte).
Akku statt Diesel: Auf den magenta markierten Strecken wird der Betrieb umgestellt.
Als betriebliche Reichweite der Züge nennt Stadler mindestens 80 Kilometer. „Aber es gibt noch großzügige Reserven für Umleitungen, Wartezeiten oder Betriebsstörungen“, zerstreut Projektleiterin Ruth Niehaus alle Bedenken, dass die Züge unterwegs „saft-“ und kraftlos liegen bleiben könnten. Zudem seien die Fahrpläne in den drei Teilnetzen so großzügig gestrickt, dass genug Zeit zum Laden oder die nächste Oberleitung komfortabel erreichbar bleibt. Positiv auf die Reichweite wirkt sich zudem aus, dass die Züge ihre Bremsenergie in die Batterien zurückspeisen. Ähnlich wie bei E-Bussen werden die Batterien ohnehin nicht komplett leer gefahren.
Hoffnungsträger für die Antriebswende
„Ein Wasserstoffantrieb wäre auch infrage gekommen, die Vergabe des Auftrags war technologieoffen“, berichtet die Projektleiterin: „Von den Herstellern gab es jedoch nur Angebote für Batteriefahrzeuge.“ Die Wahl fiel auf den Schweizer Hersteller Stadler und seinen Zugtyp „Flirt 3 BEMU“. Das steht zum einen für die dritte Generation des Flinken Leichten Innovativen Regional-Triebzugs. Zum anderen bedeutet das „Battery Electrical Multiple Unit“ – also batteriebetrieben. Die Technik könnte sich zu einem Hoffnungsträger für die Antriebswende auf der Schiene entwickeln. Es gibt konkrete Pläne beziehungsweise abgeschlossene Vergaben für Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Berlin und Brandenburg. Das Land Niedersachsen will diese Technik ab 2029 im Heidekreuz einsetzen und bereitet über die LNVG noch für dieses Jahr die Ausschreibung von 102 Fahrzeugen vor. Schon etwas weiter ist das Land Sachsen, wo zwischen Leipzig und Chemnitz ab kommenden Sommer Akkuzüge von Alstom verkehren sollen. In der neuen Technik der Batteriezüge liegt zudem weiteres Potenzial. „Bei Streckenreaktivierungen kommen in ganz großen Teilen Batteriehybrid-Triebwagen infrage – im Moment geht der Trend dorthin“, sagt Dr. Martin Henke, Geschäftsführer Eisenbahnverkehr beim VDV: „Reaktivierungsvorhaben, die noch mit Diesel geplant worden sind, sind zwischenzeitlich auf die Batteriehybridtechnik umgestellt worden.“ Weitere Chancen liegen auch jenseits von Oppendorf. Laut Landesnahverkehrsplan soll die Strecke bis zum Schönberger Strand – im Volksmund „Hein Schönberg“ genannt – bis 2026 wieder durchgängig befahren werden.
Züge sind bei Personal und Fahrgästen beliebt
Die kurze Reise vom Kieler Hauptbahnhof nach Oppendorf und zurück verläuft für Triebfahrzeugführer Christian Sachse, Zugbegleiter Andre Wyludda und ihre Fahrgäste entspannt. Fahrkomfort, der Zeitpuffer im Fahrplan und die Leistungsreserven des spurtstarken Zuges wirken zusammen. Und so bleibt in der Wendepause noch Zeit für einen kurzen Plausch mit Fahrgästen, die ganz angetan von dem neuen Zug sind, sowie ein Gespräch mit Projektleiterin Ruth Niehaus. „Ich habe lediglich zehn Prozent der Leistung eingesetzt“, berichtet der Triebfahrzeugführer und erzählt, dass sich die neuen Züge schon nach kurzer Zeit auch bei seinen Kolleginnen und Kollegen einer großen Beliebtheit erfreuen. Christian Sachse: „Man hat halt nicht ständig dieses Brummen im Ohr.“
Weitere Infos zu alternativen und
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