In Nordrhein-Westfalen ist die Premiere im Euregio-Gebiet ein weiterer Schritt nach etlichen anderen zuvor. „Wir wollen, dass die Menschen einander, ob zum Einkaufen, Arbeiten oder Studieren, begegnen können. Grenzüberschreitende Verbindungen eröffnen deutlich komfortablere Pendelmöglichkeiten und attraktive Reiseverbindungen“, beschreibt beispielsweise Oliver Wittke, Vorstandssprecher des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR), das Ziel. So fährt die Regionalexpress-Linie RE 13 aus NRW durch bis nach Venlo und die RE 19 nach Zevenaar und Arnhem. Außerdem überqueren Buslinien die Grenze. Auf vielen dieser Verbindungen gilt das Deutschland-Ticket bis zum holländischen Endbahnhof. Zudem konnte der VRR diese Stationen in sein Tarifgebiet aufnehmen, so dass Fahrausweise durchgehend gelöst werden können. Derartige Angebote werden weiter ausgebaut. Der RE 13 soll ab Ende 2026 von Venlo weiter bis Eindhoven fahren, kündigt Oliver Wittke an. Mehr Züge auch im Euregio-Raum: Zwischen Lüttich und Aachen wird auf der direkten Strecke über Verviers eine S-Bahn kommen, die bislang im Vorlaufbetrieb fährt. Außerdem ist ein schneller RE 29 im Gespräch, der von Lüttich bis nach Köln fährt und zwischen seinem Startbahnhof und der deutschen Grenze die belgische ICE- und TGV-Hochgeschwindigkeitsstrecke nutzt.
Im deutschen Südwesten steht ein umfassendes deutsch-französisches SPNV-Projekt auf der Agenda. Zwischen Saarbrücken und Neustadt an der Weinstraße sowie Wörth mit Anschluss nach Karlsruhe im Norden und Mulhouse im Elsass sowie dem badischen Müllheim im Süden sollen von Ende des Jahres 2027 an auf sieben Strecken Nahverkehrstriebwagen grenzüberschreitend im Taktfahrplan neue, attraktive Direktverbindungen von einem Land ins andere schaffen. Die Strecken Neustadt – Strasbourg und Wörth – Strasbourg sollen, soweit möglich, schon früher in Betrieb gehen. Werner Schreiner, langjähriger Geschäftsführer des Verkehrsverbunds Rhein-Neckar, hat das Projekt einen arbeitsreichen Ruhestandsjob verschafft: Er ist Beauftragter des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Er ist mit viel Optimismus unterwegs: „Diesseits und jenseits der Grenze gibt es glücklicherweise viele Leute, die es wollen. Die für die Sache brennen und auch Verständnis für die Probleme beim jeweiligen Nachbarn haben.“
Drei Bundesländer und „Grand Est“ am Zug
Es ist ein anspruchsvoll großräumiges Projekt. Einbezogen sind die Linien Offenburg – Straßburg, von Saarbrücken nach Metz und ebenfalls in die elsässische Metropole. Hinzu kommt mit einer Reaktivierung der französischen Strecke Perl –Thionville die Bahnverbindung von Trier nach Metz. Zum gemeinschaftlichen Aufbau neuer Qualität im Schienennahverkehr haben sich die drei südwestdeutschen Bundesländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland verabredet mit der französischen Region „Grand Est“. Zu ihr gehören die nicht gerade kleinen Landesteile Alsace (Elsass) und Lorraine (Lothringen) sowie Champagne-Ardennes.
Die Schienen deutsch-französisch zu einem attraktiven Ganzen zu verbinden, ist eine Aufgabe, die bislang eigentlich eher stiefmütterlich behandelt worden ist – mit wenig Mut machenden Ausgangsvoraussetzungen: vernachlässigte Infrastruktur, Elektrifizierungslücken im Netz, unterschiedliche Bahnstromsysteme sowie andersartige Leit- und Sicherungstechnik. Und nicht zuletzt: sehr differenzierte Denkweisen, wie Schienenpersonennahverkehr in Regionen auszusehen hat. Werner Schreiner: „Da geht es manchmal um ganz banale Dinge. Zum Beispiel die Frage, ob so ein Nahverkehrszug Abteile der 1. Klasse braucht. In Frankreich bislang unnötig, bei uns sieht man das bekanntlich anders.“ In die 30 vorgesehenen Züge für den Grenzübertritt wird die 1. Klasse eingebaut. Das Rollmaterial mit dem schönen Namen „Régiolis Transfrontalier“ entsteht im Werk Reichshoffen im Elsass, neuerdings ein Standort des spanischen Herstellers CAF. Der hatte die Fabrik vom Alstom-Konzern übernommen, die die Franzosen auf Geheiß der EU-Kartellwächter vor zwei Jahren für die Übernahme des Bahntechnik-Riesen Bombardier aufgeben mussten.
„Régiolis“ startet im Dezember 2025
Gebaut wird nun ein „trimodaler“ Mehrsystemzug für alle sieben Strecken. Werner Schreiner ist nicht nur Nahverkehrsexperte, sondern auch Diplomat. Verhandlungsgeschick ist beispielsweise gefragt, wenn Finanzierungsnöte entstehen. Zwar hat die EU das Gesamtprojekt als „flagship-project for public transport in Europe“ geadelt, doch im trickreichen Dickicht der Politik muss immer wieder gehandelt und verhandelt werden, wer was bezahlt. Was den „Régiolis“ betrifft, übernimmt Grand Est den Löwenanteil der Investition und wird die Flotte an den künftigen Betreiber vermieten. Wer das sein wird, muss – EU-gerecht – eine europaweite Ausschreibung der Verkehrsleistung erbringen. Für eine Übergangsphase wollen ab Fahrplanwechsel im Dezember 2025 die Staatsbahnen DB und SNCF auf den Strecken zwischen Rheinland-Pfalz und Strasbourg einsteigen. Auch dafür muss noch eine Menge vorbereitet, geregelt und erprobt werden.
Nicht ganz am Ende steht auch noch die Frage: Wie wird der Fahrgast zur Kasse gebeten? „Wir suchen eine Lösung für einen attraktiven Übergangstarif“, erklärt Werner Schreiner: „Züge über die Grenze hinweg brauchen auch grenzenlose Tickets. Das sollte im Zeitalter des Euro kein Problem sein.“
Friesischer Brückenschlag
Auch in Niedersachsen gibt es diverse Pläne für den kleinen Grenzverkehr im SPNV. Paradebeispiel ist die Bentheimer Eisenbahn. Der Personennahverkehr auf der Schiene war vor Jahrzehnten eingestellt, aber vor fünf Jahren auf der Strecke von Bad Bentheim nach Neuenhaus wieder aufgenommen worden. Nun steht die Verlängerung nach Coevorden in den Niederlanden an, dem ursprünglichen Endpunkt. Bahnvorstand Joachim Berends: „Nach der erfolgreichen Streckenreaktivierung 2019 freue ich mich sehr auf die Weiterführung in die Niederlande. Für unsere Grenzregion ist der Lückenschluss zwischen Deutschland und den Niederlanden eine wichtige Verbindung. Die grenzüberschreitende Schienenverbindung steigert auch die Attraktivität der Regionen als Wirtschaftsstandort.“
In den Konzepten für die nächsten Jahre und das nächste Jahrzehnt spielt die niederländische Station Hengelo eine entscheidende Rolle. Schon heute ist sie Startpunkt einer Regionalbahnlinie nach Rheine, Osnabrück und Bielefeld. In den Planungen ist vorgesehen, zwei schon betriebene RB-Linien von Dortmund und von Münster nach Enschede bis nach Hengelo zu verlängern.
Im niedersächsischen Norden ist sogar ein echter Brückenschlag im Werden (Fotos u.). Zwischen Groningen und Leer wird derzeit eine neue „Friesenbrücke“ über die Ems gebaut. Ab nächstem Jahr soll Europas größte Hub- und Drehbrücke im Zuge der Eisenbahnstrecke Amsterdam – Bremen auch die Regionen beiderseits des Flusses neu für den Schienenverkehr erschließen. Die alte Brücke war 2015 von einem Schiff gerammt und dann abgerissen worden. Über die Ems gibt es seitdem nur noch Schienenersatzverkehr.