Mobilität regional denken
Wohnungsmangel und steigende Lebenshaltungskosten treiben viele Menschen aus den Städten ins Umland. Dieser Trend muss Kommunen und Landkreise auf neue Ideen bringen: von der Kirchturmpolitik hin zur Kooperation. Maßgeblich geht es um nachhaltige Mobilität. Die wachsenden Pendlerströme fordern von Rathäusern, Verkehrsunternehmen und auch der Bahnindustrie flächendeckend mehr intelligente Lösungen für mehr klimaneutrale Lebensqualität.
Aller Anfang ist schwer. Seit über 100 Jahren träumt die fränkische Region um Nürnberg, Erlangen und Herzogenaurach von einer gemeinsamen Überlandstraßenbahn. Seit den 1990ern laufen die Anstrengungen, die „Stadt-Umlandbahn“ ins Rollen zu bringen. Mit rund 26 Kilometern geplanter Linie, derzeit das größte Straßenbahnneubauprojekt Deutschlands, soll die „StUB“ zunächst einmal die drei Städte und später noch das östlich gelegene Schwabachtal (nochmals 18 Kilometer) umweltfreundlich elektrisch miteinander verbinden. Als möglicher Starttermin wird der Beginn des nächsten Jahrzehnts angepeilt. Schon vor einigen Jahren hatte ein Bürgerentscheid 60-prozentige Zustimmung erbracht. Doch seinerzeit war vereinbart worden, dass Erlangens Bürgerinnen und Bürger erneut befragt werden sollen, wenn das nach derzeitigem Preisstand 730 Millionen Euro teure Projekt konkreter durchgeplant ist. Deshalb sollen nun am 9. Juni, dem Wahlsonntag der Europawahl, auch Kreuzchen für oder gegen das Projekt gemacht werden. Erlangens Oberbürgermeister Florian Janik hat in einer Videobotschaft unmissverständlich erklärt, dass er von dem Jahrhundertprojekt überzeugt ist.
Dass bürgerlicher Eigensinn Mobilitätsideen bremsen kann, musste vor einigen Jahren schon das baden-württembergische Tübingen erleben. 2021 votierte eine Bürgermehrheit gegen den Vorschlag, Gleise für eine Tram durch die Stadt zu legen. Der kommunale Zweckverband Regional-Stadtbahn Neckar-Alb (RSBNA) entwickelt für die Region rund um Tübingen ein dichtes Verkehrsnetz mit bestehenden Bahnstrecken und lange stillgelegten Linien, die reaktiviert werden sollen. Zwischen Herrenberg und Metzingen im Norden und Albstadt-Ehingen im Süden ist geplant, teils im Vollbahnbetrieb, teils im Stadtbahnbetrieb mit Zweisystemfahrzeugen (TramTrains) zu fahren. „Wir verfolgen das Ziel, schnellere und komfortablere Verbindungen zwischen Stadt und Umland zu schaffen und eine gute Anbindung aus der gesamten Region heraus an die Mobilitätsdrehscheibe Stuttgart sicherzustellen. Das Liniennetz soll zudem möglichst vielen Menschen umsteigefreie Verbindungen quer durch die Region ermöglichen“, beschreibt RSBNA-Geschäftsführer Prof. Tobias Bernecker das Ziel – „ein Quantensprung im regionalen ÖPNV zwischen der Schwäbischen Alb und dem Neckartal“.
Im Vorlaufbetrieb ist die abschnittsweise schon vor Jahrzehnten stillgelegte, in den 1990er-Jahren wieder aufgebaute Strecke von Herrenberg über Tübingen und Reutlingen bis Bad Urach (Ammertalbahn und Ermstalbahn) seit gut einem Jahr vollständig modernisiert und elektrifiziert in Betrieb. Nun soll es weitergehen. Voraussichtlich ab 2027 soll der Einsatz von TramTrains folgen. „Die ursprüngliche Idee war, die Städte Tübingen und Reutlingen von den Bahnhöfen aus der Region mit der Tram zu erschließen, natürlich umsteigefrei mit durchgehenden Zügen ganz nach dem Karlsruher Modell“, erklärt Tobias Bernecker. Nach drei Jahren, also im September 2024, ist der Gemeinderat in Tübingen nicht mehr an den Bürgerwillen des Entscheides gebunden. Als Basis für eine denkbar erscheinende erneute Diskussion über die Tram wurde der RSBNA beauftragt, nach Trassenalternativen für Innenstadtrouten zu suchen – „ergebnisoffen“, wie es vorsichtig heißt. Reutlingen dagegen scheint schon weiter zu sein: Dort sollen voraussichtlich noch in diesem Jahr die Weichen gestellt werden für eine von drei vorausgewählten Trassen quer durch die City.
Klein- und Mittelstädte werden als Wohnorte attraktiver
Mehr als 20 Millionen Menschen sind in Deutschland überwiegend täglich unterwegs zwischen ihrem Wohnort und der Arbeitsstelle, ermittelte das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Dabei würden die Arbeitswege immer länger. So legte fast ein Drittel der Pendelnden mehr als 30 Kilometer zwischen Bett und Job zurück. Es zeige sich rund um die Metropolen, so dass Institut, „dass auch weiter entfernt liegende Klein- und Mittelstädte für Beschäftigte als Wohnorte zunehmend attraktiv werden“. Derzeit fahren Berufspendler ganz überwiegend mit dem Auto zur Arbeit. Deshalb attestiert das Bundesforschungsministerium „dringenden Handlungsbedarf“ für die Transformationsprozesse der Mobilitätswende und verweist darauf, dass dies häufig weit über Stadtgrenzen hinaus auf regionaler oder überregionaler Ebene erfolgen sollte. Auch das Umweltbundesamt (UBA) fordert und fördert die ökologische Verkehrswende über Gemeindegrenzen hinaus. Es gehe um regionale und interkommunale Kooperationen: „Mobilität sollte regional gedacht werden. Verkehrswende geht nur im Netzwerk“, heißt es im UBA-Projekt „Umlandstadt“.
Überall in Deutschland gibt es engagierte Beispiele für einen Ausbau des nachhaltigen öffentlichen Nahverkehrs. Leuchtturmprojekte sind beispielsweise reaktivierte Nebenbahnen, Stadtbahn-Neubaustrecken, PlusBus-Systeme mit der regelmäßigen Verknüpfung an das Schienennetz und nicht zuletzt das Projekt VDV-TramTrain. Sieben Verkehrsunternehmen sind eine vier Milliarden Euro schwere ÖPNV-Kooperation eingegangen, um in einer gemeinsamen Bestellung beim Schweizer Hersteller Stadler bis zu 500 Bahnen zu ordern und ihm für Jahrzehnte die Fahrzeugwartung zu übertragen. Das Vorhaben ist die konsequente Weiterentwicklung des seit mehr als 30 Jahren erfolgreichen Karlsruher Modells: die durchgehende Nutzung von städtischen Tramgleisen und klassischen Eisenbahnstrecken für umsteigefreien Nahverkehr zwischen Stadt und Umland mit Zweisystemfahrzeugen für die beiden unterschiedlichen Stromsysteme.
Kooperationspartner sind die Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK), die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG), die Saarbahn, die Regional-Stadtbahn Neckar-Alb sowie die österreichischen Verkehrsunternehmen in Linz und Salzburg. Der Lieferant, der die Bahnen als „Citylink“ vermarktet und in seinem spanischen Werk Valencia produziert, will die ersten Vorserienfahrzeuge Anfang nächsten Jahres nach Saarbrücken ausliefern. Trotz hoher Standardisierung werden die Bahnen in sieben Varianten maßgeschneidert für die jeweiligen Einsatzgebiete. „Es müssen betreiberspezifische Anforderungen wie zum Beispiel Einstiegshöhe, Lackierung und Anforderungen an den Einsatzort erfüllt werden“, erklärt Gesamtprojektleiter Thorsten Erlenkötter von den VBK.
Das Karlsruher Modell stand in den letzten Jahren auch Pate für zwei weitere SPNV-Netze. In Kassel entstand die RegioTram. Sie verbindet drei Eisenbahnstrecken aus dem Umland durch einen eigens gebauten Tunnel im Hauptbahnhof mit dem Straßenbahnnetz der nordhessischen Metropole. Zehn der 28 Zweisystem-Triebzüge sind Hybridfahrzeuge mit dieselelektrischem Antrieb für eine nicht elektrifizierte Bahnstrecke und der Gleichstromtechnik für die Straßenbahn. Die übrigen Bahnen sind vollelektrische TramTrains mit zwei Stromsystemen. Ursprünglich wollte man sich in Kassel an dem VDV-TramTrain-Projekt beteiligen, entschied sich dann aber, die Flotte bis 2030 vom Fahrzeughersteller Alstom komplett modernisieren zu lassen und bis mindestens 2045 weiter einzusetzen. Pläne zur Erweiterung des Netzes, das jährlich von neun Millionen Fahrgästen genutzt wird, gibt es nach Angaben einer Sprecherin derzeit nicht.
Das Chemnitzer Modell umfasst vier Linien auf 210 Kilometern. In der sächsischen Industriestadt werden neue Stadt-Umland-Verkehrsbeziehungen bereits seit mehr als 20 Jahren vorangetrieben. Der erste Schritt war Anfang des Jahrtausends die Eröffnung einer elektrifizierten Strecke zwischen Chemnitz und Stollberg (C11). Ein wichtiger Meilenstein war die Anlage von Bahnsteigen für die Straßenbahn im Hauptbahnhof Chemnitz mit Anschluss an die Vollbahn. Das überwiegend nicht elektrifizierte regionale Streckennetz der Deutschen Bahn wird mit Hybridtriebzügen betrieben, die im Umland mit Diesel unterwegs sind und ab Hauptbahnhof beziehungsweise Stadtgrenze als Straßenbahn unter der Oberleitung in die City fahren. In den nächsten Jahren verändert sich das Netz. Nach und nach werden Streckenäste im Zulauf auf die Stadt mit Bahnstrom ausgerüstet. Für die weiteren Ausbaustufen des Netzes beschafft der Verkehrsverbund Mittelsachsen nun 19 eCitylinks als vollelektrische Zweisystem-Regionalstadtbahnen (Bahnstrom/Straßenbahnstrom). Werktäglich nutzen heute rund 18.000 Fahrgäste das Chemnitzer Modell.
Interview
Wie sich das Karlsruher Modell weiterentwickelt, erläutern Prof. Dr. Alexander Pischon (l.), Vorsitzender der Geschäftsführung der Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK) und der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG), sowie deren technischer Geschäftsführer Christian Höglmeier
Das Karlsruher Modell hat sich in mehr als 30 Jahren erfolgreich entwickelt. Was können Sie davon Ihren Partnern im VDV-TramTrain-Projekt weitergeben?
» Prof. Dr. Alexander Pischon: Die VBK und die AVG sorgen tagtäglich in enger Zusammenarbeit für einen sehr guten Nahverkehr in der Region. In den vergangenen Jahrzehnten ist es uns gelungen, mit dem „Karlsruher Modell“ ein erfolgreiches Nahverkehrsmodell zu etablieren, das nicht nur regional von Millionen Kundinnen und Kunden genutzt wird, sondern auch internationales Renommee genießt und für viele Regionen weltweit ein Vorbild ist. Damit unser gemeinsames VDV-TramTrain-Projekt ein ebenso großer Erfolg werden kann, steht eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit an erster Stelle. Wir arbeiten sehr gut mit allen beteiligten Unternehmen zusammen – deshalb sind wir sicher, dass auch das TramTrain-Projekt ein echtes Vorzeigeprojekt wird.
Im Laufe der Jahre haben sich Ihre Aktivitäten immer mehr erweitert, von der ursprünglichen Idee der Stadt-Umland-Verbindungen zwischen Karlsruhe und den Nachbargemeinden hin zu einem ausgedehnten, flächendeckenden regionalen Stadtbahnnetz einschließlich S-Bahn-Verkehren auf der Fernverkehrsstrecke Karlsruhe – Basel. Wie kam es zu dieser Ausweitung?
» Christian Höglmeier: Seit der Entwicklung der ersten Zweisystemstadtbahn bis zum heutigen Tag hat sich die Zahl der Strecken, auf denen unsere Fahrzeuge unterwegs sind, enorm erweitert. Für die ersten Jahre im Anschluss an die Pionierstrecke von Karlsruhe nach Bretten kann man sogar von einem sehr rasanten Ausbau beziehungsweise einer Anbindung zahlreicher neuer Orte und Regionen an unser Nahverkehrsnetz sprechen. Diese enorme Ausweitung hatte vor allem mit der großen Attraktivität unseres komfortablen Stadtbahnangebots zu tun, das für Millionen von Fahrgästen pro Jahr heutzutage gar nicht mehr wegzudenken ist.
Im Dezember 2021 haben Sie Ihre kurze Tunnelstrecke in der Karlsruher City in Betrieb genommen. Lassen sich nach gut zwei Jahren Erkenntnisse bilanzieren hinsichtlich der Qualität der Betriebsabläufe und auch bei der Entwicklung der Fahrgastzahlen?
» Alexander Pischon: Der Karlsruher Stadtbahntunnel zeichnet sich seit seiner Inbetriebnahme durch eine sehr hohe Betriebsstabilität aus und hat mit Blick auf unser innerstädtisches Gesamtnetz sehr viele Verbesserungen mit sich gebracht. So können die Stadtbahnen der AVG und die Tram-Linien der VBK die Stadt sowohl auf der Ost-West-Achse als auch von Süden her kommend zügiger und ohne Behinderungen durchqueren. Das bringt für unsere Fahrgäste einen echten Fahrzeitgewinn mit sich und verringert auch Störungen im Bahnbetrieb. Zur Einordnung: In unserem Tunnel gibt es pro Tag circa 1.000 Tram- und Stadtbahnverbindungen.
Gibt es in den kommenden Jahren weitere Großprojekte zur Ausweitung des TramTrain-Angebots, etwa nach der Auslieferung der 75 fest bestellten Fahrzeuge ab 2025/2026?
» Christian Höglmeier: Ja, natürlich. Wir arbeiten derzeit an drei Themenschwerpunkten. Zum einen laufen die Planungen und der Bau von zweigleisigen Ausbaumaßnahmen auf den Bestandsstrecken, um zusätzliche Verkehre zu ermöglichen. Zum anderen arbeiten wir an mehreren Reaktivierungen von stillgelegten Strecken in der Region von Karlsruhe und Heilbronn. Und darüber hinaus laufen auch Machbarkeitsstudien zu möglichen Streckenverlängerungen, um weitere Städte und Gemeinden an das Stadtbahnnetz anzuschließen.