Städte für Menschen –
statt Städte für Autos
Corona und das langsame Kaufhaussterben haben in großen und kleinen Städten bundesweit Diskussionen um die Zukunft der City angefacht. Attraktiver soll sie werden, mehr Lebensqualität bieten. Viele Experten sind sich einig: Das geht nur mit einem Rückzug des Autos aus den Zentren – verbunden mit einer Mobilitätswende. Doch das wird vielerorts ausgeblendet oder strikt abgelehnt.
Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München hatte sich sogar einen schönen Namen für seinen Vorschlag ausgedacht: Mit einer „Anti-Stau-Gebühr“ von täglich sechs Euro würden die Wissenschaftler die Chance sehen, innerhalb des Mittleren Ringes rund um die City der bayerischen Landeshauptstadt das individuelle Autoblech spürbar um fast ein Viertel zu reduzieren. Bei einer Gebühr von zehn Euro sei, so die Studie, sogar mit einem Rückgang des motorisierten Individualverkehrs um 30 Prozent zu rechnen. Oliver Falck, Leiter des Ifo-Zentrums für Industrieökonomik und neue Technologien: „Damit könnten wir die Stauprobleme in der Innenstadt in den Griff bekommen.“
Die Reaktionen fielen typisch aus. Zustimmung gab es nur von den Grünen im Münchner Stadtrat. Der Handelsverband Bayern dagegen sprach gar vom „Tod des Einzelhandels in den Innenstädten“ und sah schon die Abrissbagger vorfahren. Der ADAC Südbayern versuchte, die Kurve zu kriegen: Eine derartige City-Maut sei sozial ungerecht für alle, die auf ein Auto angewiesen seien. Die soziale Karte zog auch Münchens SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter und gab weiterhin zu bedenken, dass der Öffentliche Personennahverkehr erst in die Lage versetzt werden müsse, den Mehrverkehr vom Auto aufzunehmen. Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger von den Freien Wählern, Junior-Partner in Markus Söders CSU-Landesregierung, war ebenfalls dafür, das Thema auf die lange Bank zu schieben und warnte vor „überhasteten“ City-Maut-Lösungen. Um den Verkehr in den Großstädten zu reduzieren, brauche es „weitsichtige Konzepte, die die Interessen der Wirtschaft und der Kunden berücksichtigen“, zitierte der Bayerische Rundfunk den Minister.
Für ein weitsichtiges Konzept halten Fachleute die City-Maut längst. Der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums empfahl Minister Peter Altmaier (CDU) bereits vor mehr als einem Jahr in einem öffentlich gemachten Schreiben, „sich mit Gestaltungsmöglichkeiten für eine marktbasierte und sozialverträglich ausgestaltete Verkehrswende, zum Beispiel in Form einer City-Maut, auseinanderzusetzen“. Und der Beirat machte klar, dass das weder Teufelszeug noch Neuland sei: „Blaupausen dafür sind verfügbar.“ Verwiesen wurde beispielhaft auf Erfahrungen in Stockholm und Singapur, Tokio und London. Gegen den eher vorsichtigen Versuch des Ifo-Instituts mit maßvollen Gebührenvorschlägen wirkt das Londoner Modell fast schon abschreckend. Wer dort in die Stadt hineinfährt, muss reichlich zahlen, wenn sein Auto schon etwas älter ist. Zur schon länger eingeführten City-Maut von 15 Pfund (16,50 Euro), die als „Congestion Charge“ ebenfalls eine Anti-Stau-Gebühr ist, ist noch eine Umwelt-Gebühr von 12,50 Pfund hinzugekommen. Das macht insgesamt für einen Euro-5-Diesel umgerechnet knapp 30 Euro pro Tag aus. Viel gebracht hat das weltweit größte Auto-Sperrgebiet aber bisher nicht, muss die Stadtregierung eingestehen. Die Staus sind in der rasant wachsenden Metropole wegen diverser Großbaustellen für die Infrastruktur auch nicht weniger geworden.
Staus und Umweltbelastungen sind auch in vielen anderen Metropolen rund um den Globus die Gründe, den Autoverkehr in den stark belasteten Innenstädten über Preise zu regulieren und zu reduzieren. Nur im Autoland Deutschland bisher nicht, trotz überlasteter Infrastrukturen und Treibhausgas-Emissionen. Man diskutiert hier und da Stadt-Einfahrttickets, doch bisher hat sich keine Kommune an eine City-Maut getraut.
Das Wiener Prinzip: autoarm statt autofrei
Auch in Österreichs Hauptstadt Wien wurde ein entsprechender Versuch politisch abgeschmettert. Die Metropole an der Donau, die sich zu den Städten mit weltweit höchster Lebensqualität zählt, hat den Rückzug des Autos anders erreicht: mit dem über Jahrzehnte dauernden, mit Milliardeninvestitionen vorangetriebenen Ausbau des ÖPNV, mit einer konsequenten hochpreisigen Parkraumbewirtschaftung, mit Verkehrsberuhigung und der Rückgewinnung von Straßenraum für Fußgänger. Vorzeigeprojekt ist die autofreie Mariahilferstraße als 1,8 Kilometer lange Flaniermeile mittendrin.
Laut Statistik des ÖPNV-Unternehmens Wiener Linien nehmen fast 40 Prozent der Hauptstädter und Pendler Bus und Bahn. Und der Marktanteil des Autoverkehrs ging von 1993 bis 2019 von seinerzeit ebenfalls 40 Prozent auf 25 Prozent zurück. Rund 30 Prozent gehen zu Fuß, etwa sieben Prozent radeln. Lebensqualität gibt es auf Dauer jedoch nicht zum Nulltarif. Netzerweiterungen speziell im Schienenverkehr kosten viel Geld. Zudem leistet sich die Stadt Wien jährlich eine halbe Milliarde Euro an Zuschuss für das 365-Euro-Jahresticket für Busse und Bahnen.
Das Wiener Prinzip, schlagwortartig beschrieben mit „autoarm statt autofrei“, lockt nun mehr und mehr auch deutsche Städte zur Nachahmung. Auch die beiden größten mit allerersten, bescheidenen Versuchen. Berlin hat ein Teilstück der Touristen- und Einkaufsmeile Friedrichstraße zumindest testweise für den motorisierten Individualverkehr dicht gemacht, in Hamburg wird der noble Jungfernstieg an der Alster so umgebaut, dass außer Anliegern nur Linien- und Lieferverkehre dort fahren dürfen. Einen entscheidenden Pluspunkt haben beide Projekte: Die – meist vergebliche – Parkplatzsuche kann man sich dort sparen, denn beide Boulevards sind optimal mit Bussen und Bahnen erreichbar.
Dass ein gut funktionierender ÖPNV unabdingbar für neue Stadt-Qualität ist, ist Politikern oft nur einen Nebensatz wert. Doch selbst der sonst eher dem Auto zugewandte Handelsverband Deutschland (HDE) hat in seinem Anfang des Jahres publizierten „Elf-Punkte-Plan“ für lebenswerte Innenstädte die Zeichen der Zeit erkannt und fordert in seinem Konzept ausdrücklich die Ertüchtigung des ÖPNV und des Radverkehrs. Das Auto sei dann einzuschränken, wenn zuvor attraktive Alternativen aufgebaut seien.
Deutscher Städtetag: „Unsere Städte sind keine Parkplätze“
Der Deutsche Städtetag tritt seit längerem nachdrücklich für den Rückzug des Pkw aus den Innenstädten ein. Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy wiederholt es immer wieder in Interviews und bei öffentlichen Auftritten: „Es ist noch keine Verkehrswende, wenn wir jeden Verbrenner durch ein E-Auto ersetzen. Es geht darum, dem Auto auch öffentliche Räume zu entreißen. Unsere Städte sind keine Parkplätze, Städte sind Orte zum Leben. Es sind Städte für Menschen und nicht Städte für Autos.“ Dabei geht es längst um mehr als Stau-Abbau und Klimaschutz, machte Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), seit vergangenem Jahr Präsident des Deutschen Städtetages, kürzlich im Gespräch mit dem „Spiegel“ deutlich. Man müsse die Innenstadt den Menschen zurückgeben: „Zentren müssen bespielt werden, wieder lebendige Orte werden, autoarm oder autofrei. Es braucht Events, Ereignisse, Kommunikation. Die alte Idee des mittelalterlichen Marktplatzes muss aufleben: Da ist der Händler, der Gaukler, der Wirt, der Sänger, der Neuigkeiten berichtete. Wir müssen das Zentrum wieder richtig zelebrieren.“
„Konzepte über alle Verkehrsträger hinweg“ fordert dafür Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags. Ideen und Forderungen dazu hat die Verkehrsbranche in ihrem aktuellen VDV-Positionspapier „Kurs halten: Bus & Bahn bleiben Motor der Mobilitätswende“ zusammengestellt. Mitautor Volker Deutsch vom Branchenverband: „Wir müssen wegkommen von einer Fokussierung auf den Autoverkehr – hin zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung mit mehr öffentlichen Begegnungsräumen für Menschen.“ Der renommierte und streitbare österreichische Verkehrswissenschafter Hermann Knoflacher, einer der Väter des Wiener Konzepts, erklärt es immer wieder: Erst wenn das Autoblech verschwunden ist, begreifen die Menschen, was sie gewonnen haben.