„Wir sollten ambitionierter denken als in den vergangenen Jahren“
Die europäische Verkehrspolitik steht vor spannenden Monaten. Der von der EU-Kommission vorgelegte „Green Deal“ und die europäische Digitalpolitik werden den Verkehrssektor erheblich beeinflussen. „VDV Das Magazin“ sprach dazu mit Annika Stienen, Leiterin des VDV-Europabüros in Brüssel.
Die Summen und das Vorhaben erscheinen gigantisch. Eine Billion Euro will die EU-Kommission investieren, um Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Der von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende vergangenen Jahres vorgestellte „Green Deal“ ist eines der in Brüssel meist diskutierten Themen: Der Verkehr muss einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Alle politischen Initiativen, die auf den Weg gebracht werden, sollen dieses Ziel unterstützen. Annika Stienen (Foto), Leiterin des VDV-Europabüros in Brüssel, schätzt deshalb die Chancen der Verkehrsbranche, von der EU gehört zu werden, derzeit als sehr gut ein: „Wir spüren gerade einen starken politischen Aufwind für unsere Anliegen.“ Den gilt es zu nutzen. Die Verkehrsbranche muss nun gute Vorschläge einbringen, wie der Verkehr nachhaltiger werden kann. „Wir können durchaus mit ambitionierteren Forderungen für die Zukunft auftreten als in der Vergangenheit“, ist sich Annika Stienen sicher. Denn das Thema Klimaschutz stand zwar schon im „EU-Weißbuch Verkehr“ 2011 im Vordergrund, drängt aber mittlerweile noch stärker. Hintergrund sind die in den vergangenen Jahren weiter gestiegenen Treibhausgasemissionen.
Neben dem Klimaschutz steht als zweites großes Thema die Digitalisierung auf der Brüsseler Agenda. Auch der Öffentliche Verkehr und Schienengüterverkehr wird immer digitaler. Bei der EU-Kommission zeichnet Vizepräsidentin Margrethe Vestager für dieses Thema verantwortlich. Als Ansprechpartnerin rückt damit für das Brüsseler VDV-Büro die Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien – die DG Connect – mit ihren Gesetzesvorschlägen zunehmend in den Fokus. „Dabei ist problematisch, dass die DG Connect mit der Digitalbranche vertraut ist, über den Verkehrssektor jedoch wenig weiß“, berichtet Annika Stienen. Viele IT-Firmen wollen sich im Verkehrssektor betätigen und benötigen dafür den Zugang zu Daten aus der Branche. Die EU wünscht sich außerdem vernetzte digitale Ticketing-Systeme und Mobility as a Service (MaaS) – die verkehrsträgerübergreifende Mobilität zum All-inclusive-Preis. Je nachdem, wie diese ausgestaltet seien, bestehe jedoch die Gefahr, dass solche Systeme nicht unbedingt mit den Zielen der Verkehrspolitik konform seien, mahnt die Leiterin des Brüsseler VDV-Büros: „Und letztlich geht es auch darum, die Daseinsvorsorge durch den Öffentlichen Verkehr zu sichern.“
Auf europäischer Ebene bleibt jedoch auch weiterhin die Generaldirektion Mobilität und Verkehr (DG Move) wichtigste Ansprechpartnerin für die Verkehrsbranche. Die DG Move beschäftigt sich ebenfalls mit der Digitalisierung und dem Green Deal – allerdings nur im Verkehrsbereich. Derzeit bereitet sie eine umfassende Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität vor, die sie in der zweiten Jahreshälfte vorstellen will.
Welche Szenarien nötig sind, damit die Verkehrswende gelingen kann, zeigt die Studie „Deutschland mobil 2030“. Derzeit überlegt der VDV, wie die Ergebnisse auf Europa übertragen werden können. „Ich persönlich bin der Meinung, dass eine viel ambitioniertere Politik als bisher nötig ist, um die Klimaziele zu erreichen“, ist Annika Stienen überzeugt. Den Ansatz, den die europäische Verkehrspolitik etwa im Straßenverkehr bereits verfolgt – die Etablierung des Nutzer- und Verursacherprinzips – hält sie vom Grundsatz her nach wie vor für richtig. Er wird aber nur einen kleinen Teil des Verkehrs betreffen und findet außerdem nicht in allen Mitgliedstaaten Unterstützung. „Wir brauchen daher neue und vor allem wirksame Initiativen“, sagt Annika Stienen, „und ich wünsche mir, dass wir mit dem VDV zu dieser Diskussion einen Beitrag leisten können.“
Hier geht es zu den zehn Vorschlägen des VDV für eine europäische Verkehrspolitik:
www.bit.ly/verkehr_EU