Verkehrspolitik
09.11.2021

Tempo 30:
Zwischen Klimaschutz und Kostenfalle

Tempo 30 auf allen Straßen in der Stadt: Für die einen ist das die Verheißung gewonnener Lebensqualität, für die anderen eine Utopie, die das tägliche Leben unnötig einschränkt. Die Diskussion ist in vollem Gange, und sie betrifft in hohem Maße auch den Umweltverbund von Bus und Bahn, Radfahrern und Fußgängern. Den vielen positiven Effekten stehen verkehrliche und finanzielle Belastungen für Bus- und Straßenbahnunternehmen gegenüber. Ganzheitliche Konzepte sind gefragt.


Für die erfolgreiche Entdeckung der Langsamkeit gilt Finnlands Hauptstadt Helsinki als Paradebeispiel. In der 650.000-Einwohner-Metropole waren die Möglichkeiten des motorisierten Individualverkehrs in den vergangenen Jahren nach und nach eingeschränkt worden. Dann folgte ab 2018 die weithin flächendeckende Einführung von Tempo 30. Mit Ausnahmen: Auf wichtigen Durchgangsstraßen darf schneller gefahren werden, jedoch auch nur mit sensiblem Fuß auf dem Gaspedal. 40 km/h und nicht mehr sind erlaubt. Der größte Erfolg stellte sich schon im folgenden Jahr ein. Es gab in der Stadt nicht einen einzigen Verkehrstoten.



Von Paris bis Palma de Mallorca wächst die Zahl der großen und kleinen Kommunen, die die „Vision Zero“ von der unfallfreien Stadt dank gebremstem – und darüber hinaus auch deutlich eingeschränktem – Autoverkehr konsequent umzusetzen trachten. Auch in Deutschland. Die Denkfabrik „Agora Verkehrswende“ startete im Sommer gemeinsam mit dem Deutschen Städtetag das Vorhaben „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten – eine neue kommunale Initiative für stadtverträglicheren Verkehr“. Die Initiative fordert den Bund auf, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kommunen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen können, wo sie es für notwendig erachten. Und etliche Städte und Gemeinden sind bereits auf dem Weg, von Esslingen bis Bremen, von Berlin bis Mainz. Die Idee ist überall identisch: Neben der wachsenden Verkehrssicherheit geht es um weniger Lärm und weniger Luftverschmutzung – um Lebensqualität im weitesten Sinne also.

Wir sprechen von einem Tempo-50-­Grundnetz, und das sollte sich in enger Abstimmung zwischen den Rathäusern und den örtlichen Verkehrsunternehmen überwiegend am Liniennetz von Bus und Bahn orientieren.

Dr. Volker Deutsch, Verkehrsplanungschef des VDV

Städte wollen selbst entscheiden

Allerdings zeigen die bisherigen Erfahrungen und erste Studien, dass es mit pauschalen Regelungen nicht getan ist. „Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir aber vor Ort mehr Entscheidungsspielräume. Die Kommunen können am besten entscheiden, welche Geschwindigkeiten in welchen Straßen angemessen sind“, hatte Städtetagspräsident Burkhard Jung, Oberbürgermeister von Leipzig, anlässlich der Vorstellung der Initiative betont. „Wir wollen in unseren Städten nicht flächendeckend Tempo 30 einführen. Und wir wollen keine pauschalen Regelungen für alle Städte. Aber wir wollen, dass Städte selbst entscheiden und neue Modelle von Geschwindigkeiten erproben können.“ ­Konkret unterstützt der Dachverband der Kommunen alle Tempo-30-Versuche außerhalb der innerstädtischen Hauptstraßen. OB Jung: „Auf Einfallstraßen und Verkehrsadern bleibt es also bei Tempo 50.“ Damit bezieht der Städtetag klar eine Gegenposition zu jenen Umweltschützern und Kommunalpolitikern, die radikal und pauschal die herabgesetzte Höchstgeschwindigkeit auf allen städtischen Straßen fordern.

Aus der Politik wurde bereits grundsätzliche Bereitschaft signalisiert. Eine Entschließung des alten Bundestages, eine Empfehlung der Verkehrsministerkonferenz der Länder und ein Beschluss des Bundeskabinetts zum Nationalen Radverkehrsplan aus diesem Jahr könnten die Weichen stellen. Damit würde zunächst einmal der Rechtsrahmen geschaffen, die Möglichkeiten und Risiken von Tempo 30 auszuloten. Die Initiative des Städtetages würde ein vom Bund gefördertes begleitendes Modellvorhaben begrüßen, um das Für und Wider zu erforschen. Es gehe um wichtige Einzelaspekte, unter anderem auch zu den Auswirkungen auf den ÖPNV. „Lärm, Treibhausgase, Schadstoffe und Verkehrssicherheit sind gute Gründe für Geschwindigkeitsreduzierungen des Autoverkehrs“, sagt Dr. Volker Deutsch, Verkehrsplanungschef des VDV. Entscheidend sei „aber eine vorausgehende Bewertung, die Unfallgeschehen, Lage, Funktion und Belastung einer Stadtstraße im Gesamtnetz berücksichtigt“. Prinzipiell sieht sich der Branchenverband an der Seite des Deutschen Städtetages bei dem Vorschlag, Haupt- und Durchgangsstraßen weiter für Tempo 50 zuzulassen. „Wir sprechen von einem Tempo-50-Grundnetz, und das sollte sich in enger Abstimmung zwischen den Rathäusern und den örtlichen Verkehrsunternehmen überwiegend am Liniennetz von Bus und Bahn orientieren“, empfiehlt Volker Deutsch. Mit der klaren Zielsetzung, dass Straßen mit einem dauerhaften, vertakteten ÖPNV-Linienverkehr zum Grundnetz gehören – erst recht die städtischen Bahnsysteme.

„An einer Systembeschleunigung arbeiten“

Bisherige Erfahrungen mit Tempo 30 zeigen, dass die Auswirkungen der verminderten innerstädtischen Geschwindigkeit von Stadt zu Stadt, von Straße zu Straße recht unterschiedlich sein können. So ist der Verkehrsfluss beispielsweise stark abhängig von Ampelschaltungen, Zweite-Reihe-Parkern oder Abbiegeverkehr. Häufig weicht die tatsächliche Fahrzeit dann gar nicht nennenswert ab, wenn statt 50 km/h nur noch 30 km/h erlaubt sind. Volker Deutsch kennt die Diskussion und widerspricht: „Sofern ein Bus in einem Straßenzug so langsam unterwegs ist, kann doch die Schlussfolgerung nicht sein, dass dann Tempo 30 auch nicht mehr ins Gewicht fällt. Die Folgerung muss eher sein, dass an einer Systembeschleunigung gearbeitet wird.“ Tim Dahlmann-Resing, Vorstand der VAG Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg und Leiter des VDV-Ausschusses für Planung, sieht ein grundsätzliches Problem: „Geschwindigkeitsreduzierungen machen das Bus- und Straßenbahnangebot weniger attraktiv und teurer – und binden Geld dort, wo eigentlich neue Verkehrsangebote die Mobilitätswende nach vorne bringen sollten.“ Und er rechnet vor – konkret am Beispiel einer deutschen Straßenbahn-Stadt: Bei einer vollständigen Einführung von Tempo 30 würde bei den Bahnen die Beförderungsgeschwindigkeit sinken, sodass auf nahezu jeder Linie ein Straßenbahn-Zug mehr benötigt würde. Im Bussektor wäre die mittlere Beförderungsgeschwindigkeit sogar noch stärker reduziert. Das summiere sich bei größeren Verkehrsbetrieben schnell zu zweistelligen Millionenbeträgen. Was häufig außer Acht gelassen wird: Die Umläufe auf einer Linie werden so spitz gefahren, dass bereits wenige Minuten mehr ein zusätzliches Fahrzeug erfordern. 30 Sekunden hier und eine Minute dort verlängern rasch die Fahrzeiten. Gerade im Regionalverkehr gehen dann auch noch Anschlüsse flöten. Auch bei europäischen Nachbarn wird das kritisch gesehen, beschrieb kürzlich die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) in helvetischer Sprachfärbung unter der Überschrift: „Kleiner Zeitverlust fürs Tram kostet rasch Millionen – Die Befürworter von Tempo 30 flächendeckend unterschätzen die Folgen davon für den öffentlichen Verkehr“.

Graz betreibt schon lange Tempo-30-Zonen und Vorbehaltsstraßen für Tempo 50. Laut einer Studie macht der ÖPNV damit keine schlechten Erfahrungen.

Geschwindigkeits-
reduzierungen binden Geld dort, wo eigentlich neue Verkehrsangebote die Mobilitätswende nach vorne bringen sollten.

Tim Dahlmann-Resing, Leiter des VDV-Ausschusses für Planung und Vorstand der VAG Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg

Graz, mit knapp 300.000 Einwohnern zweitgrößte österreichische Stadt nach Wien, betreibt seit Jahrzehnten einen Mix von Tempo-30-Zonen und Tempo-50-Vorbehaltsstraßen. Eine von der TU Hamburg publizierte Studie zitiert einen Verkehrsplaner des ÖPNV-Unternehmens Graz Linien: Man mache mit Tempo 30 keine schlechten Erfahrungen. Dies, weil die meisten Linien in dem Tempo-50-Grundnetz fahren. Und falls es Abschnitte gibt, wo doch Tempo 30 gilt, kann auch 30 gefahren werden, weil auf künstliche Ein­engungen verzichtet wird und die Straßen vorfahrtberechtigt sind.

Es zeigt sich: Mehr Geschwindigkeitsreduzierungen könnten funktionieren, aber nur, wenn in der Abwägung Reisezeiten und Komfort für die Fahrgäste von Bus und Bahn zentral bleiben. Dazu sei, so Volker Deutsch, stets eine gesamtheitliche Betrachtung der jeweiligen Stadtverkehrssituation erforderlich. Es gehöre aber mehr dazu als angepasste Geschwindigkeiten. „Zu einem begleitenden Gesamtpaket zählt auch, dass Parkraumbewirtschaftung umgesetzt, kein Falschparken geduldet und die Menge der Autos dosiert wird und Bus und Bahn nicht mehr so stark an Stau und Verkehr gebunden sind. Tempo 30 richtig umgesetzt ist dann erst der Anfang einer Mobilitätswende.“

Das VDV-Positionspapier zum Thema finden Sie unter:
www.vdv.de/positionen

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