Bild oben: Im rasanten Tempo geht es für die ­Branche Richtung Deutschland-Ticket. Auf dem VDV-­Digitalgipfel verdeutlichte VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff (r.) im Gespräch mit Moderator Dr. Till Ackermann nachdrücklich, welch hohen Stellenwert die Politik dem Thema Digitalisierung bei der Einführung des Flatrate-Tickets beimisst.

Deutschland-Ticket drängt
zu mehr Digitalisierung

Mit der bevorstehenden Einführung des bundesweiten Nahverkehrstickets hat die Politik den Digitalisierungsdruck auf die Branche erhöht. Bund und Länder fordern von Verkehrsunternehmen und -verbünden, die digitale Transformation des ÖPNV zu beschleunigen. Das sorgte auf dem VDV-Digitalgipfel für reichlich aktuellen Gesprächs- und Diskussionsstoff. Mit enormem Tempo wird unterdessen der Start des bundesweit gültigen Flatrate-Angebots vorbereitet.


Mehr Wachstum im Personen- und Güterverkehr, bessere Services und effizientere Prozesse im Hintergrund: Der Schlüssel dazu liegt in der Digitalisierung. Was das Deutschland-Ticket und dessen Digitalität anbelangt, lässt Dr. Volker Wissing wenig Raum zu Interpretation. Der Bundesminister für Digitales und Verkehr hat zuletzt wiederholt betont, welch hohen Stellenwert er bei der Einführung des bundesweit gültigen Nahverkehrstickets dem Thema Digitalisierung beimisst. „Es kommt jetzt Schub rein. Wir sollten es nutzen“, sagte VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff auf dem dritten VDV-Digitalgipfel und bekräftigte die Ziele der Branche, Fahrgäste zu gewinnen und CO2 einzusparen. „Dies ist jetzt die Gelegenheit, auf ,vorwärts‘ zu stellen und zu überlegen, wie jeder das attraktivste digitale Produkt anbieten kann“, nahm Oliver Wolff die Branche in die Pflicht. Schließlich sei es wünschenswert, wenn sich Prozesse vereinfachen, etwa bei der Handhabung von Abos. Für viele, gerade kleinere Unternehmen sei das unstreitig ein Kraftakt, doch: „Ich glaube, dass das ein Beispiel ist, wie wir durch mehr Qualität bei der Digitalisierung mehr Kundinnen und Kunden auf diesen Kanal bringen können – und müssen.“

Drittel der Unternehmen im Digital-Dilemma

Die Transformation zu einem datengetriebenen Unternehmen braucht einen strategischen Rahmen und kulturellen Wandel.

Dr. Henry Widera,
CIO und Bereichsleitung Informations- und Vertriebstechnologie bei der BVG

Die Branche steht dabei auch für ein Dickicht an Tarifen, Tickets und Apps. Hinzu kommt ein digitales Dilemma: Etwa ein Drittel der Verkehrsunternehmen und -verbünde bietet ihren Fahrgästen noch gar keine elektronische Ticketlösung an, vor allem in ländlichen Regionen. Besonders dort drängt nun die Zeit bis zum Vorverkaufsstart des Deutschland-Tickets am 3. April und dem offiziellen Einführungstermin am 1. Mai. „Das ist ein wahnsinniger Rückenwind – leider mit Orkanstärke“, sagte Nils Zeino-Mahmalat, Geschäftsführer des VDV eTicket Service (ETS), der die Verkehrsunternehmen und -verbünde bei der Umsetzung von elektronischen Ticket-Angeboten unterstützt. Eine „gewisse Asymmetrie“, so Zeino-Mahmalat, sei dabei mit Blick auf den Digitalisierungsstand der Branche nicht von der Hand zu weisen. In Regionen, in denen es bereits seit Jahren Tickets auf Chipkarten und Smartphones gibt, sind die technischen Anpassungen für das Deutschland-Ticket überschaubar. Schwieriger dagegen ist es, eben jene Unternehmen ohne digitale Lösungen an Bord des E-Ticketsystems zu holen. „Das ist eine gigantische Herausforderung von der Menge und der Zeit her.“ Hinzu kommt der Mangel an Ressourcen und IT-Fachkräften.

Flatrate statt Check in/be out? Was das Deutschland-Ticket für Tarife und den Vertrieb bedeutet, diskutierten (v. o. l. im Uhrzeigersinn) Anna-Theresa Korbutt (hvv), José Luis Castrillo (VRR), Nils Zeino-Mahmalat (VDV eTicket Service) und Dr. Gian-Mattia Schucan (Fairtiq).

Auch im Hinblick auf die Tarifvereinfachung kommt nun Bewegung hinein. Weil es ihr Auftrag gewesen sei, die Nutzerfinanzierung der Tarife hochzuhalten, habe die Branche bei der Vereinheitlichung der Tarife „alte Zöpfe nicht abgeschnitten“, räumte José Luis Castrillo, Vorstand des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) ein. Dazu ist „das Deutschland-Ticket ein starker Impuls“.

Ausgegeben wird das Ticket zum Preis von 49 Euro digital, entweder auf dem Smartphone oder auf einer Chipkarte. Als Jobticket kostet es 34,30 Euro. Dabei bezuschusst der Arbeitgeber das Ticket mit mindestens 25 Prozent, Bund und Länder geben einen weiteren Abschlag von fünf Prozent. Mit dem Verkauf allein ist es jedoch bei Weitem nicht getan. Damit die digitalen Tickets bundesweit kontrolliert, zurückgegeben oder etwa bei Verlust gesperrt werden können, müssen sie standardisiert sein und sich mit allen Komponenten in den Ticketingsystemen austauschen können. Nur so ist gewährleistet, dass das Prüfgerät bei einer Kontrolle in Süddeutschland auch ein in Norddeutschland verkauftes Ticket als gültig erkennt.

Dass gerade der öffentliche Verkehr bei der Digitalisierung „noch einige ordentliche Schüppen drauflegen“ müsse, hatte zu Beginn des Digitalgipfels Tabea Rößner (Bündnis 90/Grüne) angemahnt. Die digitale Transformation des Sektors sei, so die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Digitales, „entscheidend für eine nutzerfreundliche und maßgeschneiderte Mobilität, was entscheidend ist für die Verkehrswende und die Erreichung unserer Klimaziele“. Das DeutschlandTicket sieht sie als „guten Startschuss“, allerdings müsse das zuständige Bundesressort alle Hebel in Bewegung setzen, dass es im Frühjahr losgeht.

„Ich hatte den Eindruck, wir wären kurz davor, in Deutschland flächendeckend ,Check in/be out‘ auszurollen, wenn es das Deutschland-Ticket nicht geben würde. Jetzt haben wir ein digitales Flatrate-Ticket“, schmunzelte Dr. Till Ackermann, Bereichsleiter Volkswirtschaft und Business Development beim VDV und Moderator der Veranstaltung. Ein derartiges Check in/be out ermöglicht zum Beispiel der vor einem Jahr eingeführte E-Tarif „eezy.nrw“: einchecken, losfahren, Luftlinie zahlen. Zusätzlich zur bundesweiten Flatrate setzt der VRR weiter auf dieses NRW-weite System und werde es weiterentwickeln, kündigte Vorstand José Luis Castrillo an. Dabei berichtete er von positiven Erfahrungen. Allerdings steht die digitale Transformation des ÖPNV für weitaus mehr als Ticketlösungen: nämlich auch für integrierte Mobilitätsplattformen, flächendeckende Fahrgastzählungen, Verbindungsinfos in Echtzeit, effiziente Aufteilung der Einnahmen, einen einfachen Zugang zu Bussen und Bahnen sowie leistungsgerechte und automatisierte Fahrpreise.

Der Digitalisierung in der Logistik und im Schienengüterverkehr war eine weitere Session gewidmet. Die von Steffen Kerth (VDV, o. l.) moderierte Runde aus VDV-Vizepräsident Joachim Berends, Johannes Tenschert (Metrans), Michail Stahlhut (Hupac) und Alexander Möller (Roland Berger) (von oben Mitte im Uhrzeigersinn) diskutierte aktuelle Entwicklungen.

Wie Unternehmen sich und ihre Abläufe betrieblich weiter digitalisieren können, stand neben Fahrgastthemen ebenso im Fokus des VDV-Gipfels wie die Digitalisierung der Logistik und des Schienengüterverkehrs. Hier gebe es bei der digitalen Vernetzung zwischen Verladern und Güterbahnen erheblichen Nachholbedarf, sagte VDV-Vizepräsident Joachim Berends. Im Schienengüterverkehr sei der Aufbau einer gemeinsamen digitalen Plattform nicht so einfach.
Zudem wurde über die digitale Transformation unterschiedlich großer Unternehmen diskutiert. Wie die Hürden Organisation, Architektur der Systeme sowie Kultur zu nehmen sind, erklärte Jonas Rashedi, Autor des Buches „Das datengetriebene Unternehmen“. Auf dem Weg dorthin befinden sich seit 2018 die Berliner Verkehrsbetriebe BVG, wie Dr. Henry Widera, CIO und Bereichsleitung Informations- und Vertriebstechnologie, erläuterte. „Die Transformation zu einem datengetriebenen Unternehmen braucht einen strategischen Rahmen und kulturellen Wandel.“ Dazu gehören der Aufbau von entsprechendem Know-How innerhalb des Unternehmens sowie die fachübergreifende Vernetzung. Um die bereits erzielten Erfolge und den datengetriebenen Ansatz auf die gesamte BVG mit ihren 16.000 Mitarbeitenden zu übertragen, bleibe jedoch „noch viel zu tun“. Daten seien eines von fünf Handlungsfeldern in der aktuellen IT-Strategie „Vision 2025 – nachhaltig digital“. Welches Zielbild einer datengetriebenen Organisation weiterverfolgt werden soll, müsse ebenso noch beantwortet werden wie die Frage nach der Verantwortung für den Wert von Daten.

Deutschland-Ticket vereinfacht die Tarife

Als digital besser aufgestellt, auch hinsichtlich der Ausstattung mit IT-Fachkräften, gelten die größeren Player im Verkehrsmarkt ohnehin – so auch der Hamburger Verkehrsverbund (hvv). Seit zwei Jahren arbeitet Anna-Theresa Korbutt in der Geschäftsführung. Beim Thema Digitalisierung hält sie gemeinsam mit den Verkehrsunternehmen das Tempo hoch. „In einem sehr radikalen, jedoch verträglichen Ansatz“, so die hvv-Geschäftsführerin, stellt der Verkehrsverbund seine Vertriebslogiken und die Systeme um, um sich fit für die Anforderungen des Deutschland-Tickets zu machen. Denn das Flatrate-Ticket vereinfacht die Tariflandschaft in und um Hamburg maßgeblich: Aus historisch gewachsenen 70 Fahrkartenpreisen für unterschiedliche Zielgruppen und verschiedene Geltungsbereiche wird ein einheitliches Angebot. „Für uns ist sicher, dass es ein ganz großes Potenzial für eine Neukundengewinnung gibt. Die Kunden wollen eine total einfache, zentrale Lösung – mit einer Logik wie bei Netflix oder Amazon.“

Weil es der Schub ist, den unsere Branche so dringend braucht.

Anna-Theresa Korbutt,
Geschäftsführerin des Hamburger Verkehrsverbunds (hvv), zu den Auswirkungen des Deutschland-Tickets

Demnächst soll im hvv in einer App mit wenigen Klicks das Deutschland-Ticket erhältlich sein – als Barcode sofort verfügbar, direkt in einer mobilen Umgebung, ohne manuelle Prozesse im Hintergrund, mit den gängigen Bezahlfunktionen und der Möglichkeit, mit dem Abo zu pausieren. Dafür kann das Abo an- und ausgeknipst werden. „Wir haben nicht nur das Deutschland-Ticket drin, sondern auch unsere Mobilitätswelt von morgen mit allen intermodalen Produkten“, erklärte die hvv-Chefin. Und wer das alles nicht will, kein Smartphone hat – wie Kinder, die noch keins haben sollen – und weniger digitalaffine Menschen? „Wir sprechen auch über moderne Chipkarten-Lösungen.“ Basis soll „Account-Based-Ticketing“ sein: digitale „Schließfächer“ in der Cloud, in denen alle Informationen aufbewahrt werden und zu denen die Chipkarte der Schlüssel ist. VDV eTicket Service-Geschäftsführer Nils Zeino-Mahmalat weist auf die deutschlandweite Perspektive hin: „Eine Chipkarte ist dann interoperabel, wenn sie überall funktioniert.“ Der deutschlandweite eTicket-Standard prüft diese zukünftige Ergänzung.

Ist das Deutschland-Ticket denn nun ein Digitalisierungstreiber oder -hemmer? „Uns hat es noch einmal einen enormen Schub gegeben“, berichtete Anna-Theresa Korbutt: „Wir haben unheimlich kreativ sein müssen.“ Die Entwickler und die beteiligten Verkehrsunternehmen „erfinden sich gerade neu und agieren wie Start-ups, um dieses neue Denken möglich zu machen“. Die hvv-Chefin hofft, dass sich dieser Spirit auch in anderen Teilen Deutschlands ebenso wiederfindet: „Weil es der Schub ist, den unsere Branche so dringend braucht.“

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