Innovationen
21.08.2024

Auf dem nächsten Level

Das Projekt „Kira“ brachte die Deutschlandpremiere mit sich: Im Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) bewegen sich seit wenigen Wochen die ersten Fahrzeuge auf der Automatisierungsstufe Level 4 durch den alltäglichen Straßenverkehr.


Das Potenzial ist riesig, und die Erwartungen sind hoch. Mehr Attraktivität für den ÖPNV auf der Straße, eine Antwort auf den Mangel beim Fahrpersonal, Ausbau des Angebots beziehungsweise dessen Erhalt auf heutigem Niveau: Das verspricht sich die Verkehrsbranche vom autonomen Fahren. Die schrittweise Einführung selbstfahrender Linienbusse und On-Demand-Verkehre im ÖPNV dürfte deshalb zu den wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre zählen.




Autonom mit bis zu Tempo 80 durch den Verkehr

„Kira“ ist ein Leuchtturmprojekt für autonome Mobilität Level 4 im öffentlichen Nahverkehr in Deutschland.

Knut Ringat
Vorsitzender der RMV-Geschäftsführung
und VDV-Vizepräsident

Diese Zukunft rückt nun um weitere Schritte näher. „,Kira‘ ist ein Leuchtturmprojekt für autonome Mobilität Level 4 im öffentlichen Nahverkehr in Deutschland“, erklärt Prof. Knut Ringat, Vorsitzender der RMV-Geschäftsführung und VDV-Vizepräsident. Der Projektname steht für „KI-basierter Regelbetrieb autonomer On-Demand-Verkehre“. Schauplatz dieses Pioniervorhabens unter der Leitung der Deutschen Bahn und des RMV sind Teile von Darmstadt und des Kreises Offenbach. Als regionale Partner beteiligen sich die Verkehrsunternehmen HEAG mobilo und die Kreisverkehrsgesellschaft Offenbach (kvgOF). Mit bis zu Tempo 80 rollen die Elektrofahrzeuge vom Typ „Nio ES8“, in denen das autonome Fahrsystem von Mobileye eingebaut ist, durch den Verkehr. Kamera-, Radar- und Lidar-Sensoren sowie intelligente Daten der Fahrumgebung liefern zu jeder Zeit ein 360-Grad-Bild – auch bei schlechtem Wetter. Für registrierte Fahrgäste stehen im nach den Kalibrierungsfahrten anschließenden Testbetrieb drei Sitzplätze zur Verfügung. Der Beifahrersitz ist nicht für Fahrgäste vorgesehen.

Hände weg vom Steuer: Beim autonomen Fahren auf Level 4 muss nur in Ausnahmefällen eingegriffen werden.

Anders als in Kalifornien und in China sind im europäischen ÖPNV bislang noch keine Level-4-Fahrzeuge unterwegs. „Wir testen im RMV-Gebiet, wie autonome Shuttles on demand perspektivisch im Regelverkehr in Ergänzung zu Bus und Bahn eingesetzt werden können“, erläutert Knut Ringat die Chancen der Technologie: „Das ist wichtig, denn je nahtloser öffentliche Mobilität von Tür zu Tür ermöglicht wird, desto attraktiver wird sie für viele Menschen und desto mehr private Pkw-Fahrten können durch den Nahverkehr ersetzt werden.“ Von den fünf Stufen des automatisierten Fahrens steht Level 4 für hochautomatisiert. Das heißt: Die Autos bewegen sich fahrerlos und durch eine technische Aufsicht fernüberwacht innerhalb eines definierten Einsatzgebietes. Die Endstufe Level 5 – autonom, ohne Fernüberwachung und in einem unbegrenzten Bediengebiet – wurde weltweit bislang nicht erreicht.

Weiterhin viel Arbeit an den Grundlagen

Für „Kira“ müssen die Projektpartner derzeit noch viel Pionierarbeit leisten. Bis Ende 2024 sollen die Tests und die Implementierung des Systems laufen. Derzeit geht es darum, die Fahrstabilität der Autos zu erhöhen. „In der aktuellen Projektphase prüfen wir das eingebaute Selbstfahrsystem, während die Kira-Fahrzeuge ihre Umgebung auf sogenannten Kalibrierungsfahrten erkunden“, berichtet Thorsten Möginger, Projektleiter für autonomes Fahren beim RMV. Auf diesem Weg werden die Grundlagen geschaffen, um den Service später – ab wann steht noch nicht fest – mit ausgewählten Kundinnen und Kunden zu erproben. Von den Fahrgästen wird ein Feedback eingeholt, das wissenschaftlich ausgewertet wird.

Die sechs Autos bewegen sich autonom. Das heißt: Im Regelfall entscheidet die Technik über alle Fahrmanöver. Aus regulatorischen Gründen sitzt jedoch immer ein Sicherheitsfahrer am Steuer. „Aber er nimmt nur dann die Hände ans Lenkrad, wenn eine Situation ungewöhnlich erscheint“, erläutert Thorsten Möginger. Das Sicherheitsfahrpersonal prüft, an welchen Stellen im Einsatzgebiet das Fahrverhalten des Autos und das Kartenmaterial verbessert werden können. Wenn alle Straßen und Routen abgefahren sind, geht es in der sich daran anschließenden Testphase darum, weitere Umgebungsinformationen und die On-Demand-Anwendungen mit registrierten Fahrgästen zu erproben. Dafür wird eine App-basierte On-Demand-Buchungsfunktion mit den autonomen Shuttles verknüpft, sodass die Personen aus dem Nutzerkreis das Angebot nach Bedarf bestellen und mitfahren können. „In jeder Phase forschen wir intensiv und werten aus, wie wir autonome Angebote so nutzerfreundlich wie möglich weiterentwickeln können“, erklärt der RMV-Projektleiter.

„Kira“ ist ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt, das von einem Netzwerk verschiedener Partner getragen wird. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) mit insgesamt rund 2,2 Millionen Euro sowie vom Land Hessen finanziell unterstützt. Neben den Verkehrsunternehmen steuern weitere Partner ihre jeweiligen Kompetenzen und Komponenten bei: Das DB-Unternehmen Ioki stellt die Software für die Buchung und Routenplanung und integriert die Software der verschiedenen Technologiepartner. Die Soft- und Hardware für das autonome Fahrsystem stellt Mobileye zur Verfügung. Von Bosch stammt das System zur digitalen Fahrgastbetreuung, das per Kamera in den Innenraum schaut und automatisch Hinweise gibt, etwa wenn an Bord geraucht wird oder jemand nicht angeschnallt ist. Und auch der VDV leistet seinen Beitrag: Der Branchenverband fasst in Zusammenarbeit mit den Partnern die Erfahrungen und Erkenntnisse in einem Praxisleitfaden zusammen, der Verkehrsunternehmen und Aufgabenträgern zur Verfügung gestellt werden soll.

Interview

Über ihre Erfahrungen in den ersten Wochen mit „Kira“ sprachen Thorsten Möginger (Foto l.), Projektleiter für autonomes Fahren beim RMV, und Thomas Drewes (r.), Leiter autonomes Fahren bei DB Regio Straße.

Seit Ende Juni sind die „Kira“-Fahrzeuge auf der Straße. Wie läuft der Testbetrieb?
» Thorsten Möginger: Die Fahrzeuge sind schon erstaunlich gut unterwegs – sie beherrschen die meisten Situationen bereits problemlos. Das liegt vor allem am guten Kartenmaterial von Mobileye.

Wie können Aufgabenträger künftig die Level-4-Verkehre realisieren?
» Thorsten Möginger: Um ein gutes Gesamtangebot auf die Straße zu bringen, benötigt man ein abgestimmtes Verkehrskonzept. Wer autonome On-Demand-Verkehre und Linienverkehre ausschreibt und in den ÖPNV-Regelbetrieb überführen will, muss die Rahmenbedingungen des autonomen Fahrens kennen und berücksichtigen.

Was sind die wichtigsten Faktoren bei der Implementierung?
» Thomas Drewes: Wenn das Projekt vertraglich aufgesetzt ist, gilt es, den Betrieb aufzubauen und sich beispielsweise um die Ladeinfrastruktur zu kümmern. Beim autonomen Fahren kommt die Dateninfrastruktur hinzu. Denn die Daten, die das Fahrzeug über die Sensoren sammelt, müssen in die Cloud des Selbstfahranbieters eingespielt werden. Das sind riesige Datenmengen, die über Nacht hochgeladen werden. Dafür wird eine besondere Infrastruktur benötigt, die rechtzeitig aufgebaut werden muss und zusätzliche Voraussetzungen für die Standortwahl festlegt.

Welche Genehmigungen werden benötigt?
» Thorsten Möginger: Zum einen gibt es die klassische Typgenehmigung für das Fahrzeug an sich, die für unser Fahrzeug bereits vorlag. Im Rahmen des Kira-Projekts hat uns das Kraftfahrtbundesamt eine Level-4-Erprobungsgenehmigung erteilt. Für zukünftige Projekte, die dann in den Regelverkehr integriert werden sollen, ist eine Typgenehmigung inklusive Selbstfahrsystem für das Fahrzeug nötig sowie eine Betriebsbereichsgenehmigung der jeweiligen Landesbehörde, in unserem Fall Hessen Mobil.

Welche Rolle spielt das Personal?
» Thomas Drewes: Recruiting und die Schulung sind ein weiteres Thema. Es ist zum Beispiel nicht einfach, Sicherheitsfahrer zu finden – wir benötigen Testfahrer aus der Automobilindustrie, die gut Englisch sprechen müssen. Von Mobileye zertifizierte Trainer bilden sie entsprechend aus – eine dreiwöchige, sehr anspruchsvolle Schulung. Die Fahrer brauchen einen 360-Grad-Blick auf ihren Touren. Ergänzt wird ihre eigene Wahrnehmung durch das Display im Fahrzeug, das anzeigt, was die Sensoren erkennen. Der Sicherheitsfahrer muss vorausschauend erkennen, ob er möglicherweise eingreifen muss.

Worauf kommt es noch an?
» Thorsten Möginger: Man muss sich frühzeitig um die entsprechende Finanzierung bemühen. Am Anfang sind solche Innovationsprojekte kostenintensiv. Nichtsdestotrotz braucht es die politischen Prozesse und viel Überzeugungsarbeit, dieses Thema zu entwickeln und voranzutreiben.

Welche Chancen bieten die autonomen Level-4-Verkehre für den Ausbau des ÖPNV?
» Thomas Drewes: Das autonome Fahren ist der Gamechanger für den ÖPNV. Wir können das Angebot damit trotz des Fahrermangels deutlich ausbauen. Der zweite Punkt betrifft die Kosten: Zukünftig wird das autonome Fahren erheblich günstiger sein als konventionelle Verkehre.
» Thorsten Möginger: Gleichzeitig haben wir die Verpflichtung, unsere Klimaziele zu erreichen. Zudem haben wir eine gesellschaftliche Verantwortung, den Straßenverkehr sicherer zu machen: Autonomes Fahren wird die Verkehrssicherheit deutlich erhöhen und die Mobilität zum Beispiel älterer Menschen von Tür zu Tür gewährleisten – in Städten und im ländlichen Raum.

Wann gibt es komplett fahrerlose Autos in Deutschland?
» Thomas Drewes: Dazu braucht es Fahrzeuge, die die entsprechende Typgenehmigung haben. Die Prognose der Hersteller ist, dass sie diese Typgenehmigungen Ende 2026 beziehungsweise 2027 bekommen. Auf der Basis kann die Betriebsbereichsgenehmigung beantragt werden. Das hat noch niemand gemacht, und es wird sicherlich ein weiteres Jahr dauern. Wir sprechen also vom Zeitraum 2027-2028, bis wir in Deutschland das erste Fahrzeug im komplett fahrerlosen Betrieb sehen werden. Mit unseren aktuellen Testfahrten befinden wir uns auf einem guten Weg dahin.

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