Innovationen
06.07.2021

Startsignal für den
digitalen Rangierbetrieb

Rangierer bei der Eisenbahn machen seit fast zwei Jahrhunderten einen anspruchsvollen Job mit hoher Verantwortung: Gekuppelt wird per Hand bei jedem Wetter. Unter anderem deshalb dauert es zu lange, um dem Güterzug Chancen im Wettbewerb mit dem Lkw zu eröffnen. Deutsche Bahn und Bundesregierung wollen daher Ablaufberge und Gleisfelder digitalisieren. Am Anfang steht der Rangierbahnhof München-Nord als Testfeld.

Prozessgeschwindigkeit erhöhen, heißt: mehr Züge im Rangierbahnhof, heißt: mehr Güter auf die Schiene.

Dr. Sigrid Nikutta, DB-Vorstand für Güterverkehr

Nuri Eryilmaz bückt sich und kriecht zwischen die Puffer zweier Güterwagen. Mit reichlich Kraft löst er die Druckluftschläuche und schraubt die 20 Kilo schweren Kupplungsteile auseinander. Pro Zug bis zu 50 Mal. „Pro Schicht ist das auf jeden Fall im dreistelligen Bereich“, sagt er. Es ist nicht nur ein körperlich harter Job. Eryilmaz ist zudem immer dem Wetter ausgesetzt: Bei plus 30 oder minus 20 Grad, bei Schnee und Regen. Nuri Eryilmaz arbeitet im Rangierbahnhof München-Nord. Rangierer wie er müssen außer dem Kuppeln und Entkuppeln den Zug mehrmals in ganzer Länge ablaufen, um ihn auf ordnungsgemäßen Zustand zu kontrollieren und die Bremsen zu prüfen. Das dauert. Wenn er alle Waggons getrennt hat, gibt die Rangierlok am Zugende Gas.

„Kurzpraktikum“ im Rangierbahnhof München-­Nord: Nuri Eryilmaz (M. und unten) zeigte DB-Cargo-Chefin Sigrid Nikutta (l.) und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (r.), worauf es beim Rangieren ankommt.

Obwohl sie rund 50 Jahre alt ist, beginnt bei ihr das digitale Zeitalter. Sie schiebt schon weitgehend automatisch die Wagenkolonne den Ablaufberg hinauf. „Bald wird sie autonom“, sagt ein DB-Cargo-Sprecher. „Die Lok hat schon ein Auge.“ Sprich: Viele Sensoren und eine Kamera, die die Umgebung in digitale Steuersignale an die Maschine umsetzen können. DB-Cargo-Chefin Dr. Sigrid Nikutta hat im Juni kurz Eryilmaz‘ Job übernommen, zusammen mit Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Beide ächzten hörbar unter dem Gewicht der Kupplung. Aber sie demonstrierten damit ihren Willen, den Rangierbahnhof München-Nord zum ersten digitalen Güterbahnhof in Deutschland zu machen.

Während die Lok Waggon für Waggon einzeln oder in Gruppen über den Berg schickt, erklären Nikutta und Scheuer, wie sie den Einzelwagenverkehr aus der Rolle des verlustbringenden Sorgenkinds der Deutschen Bahn bringen wollen. „Prozessgeschwindigkeit erhöhen, heißt: mehr Züge im Rangierbahnhof, heißt: mehr Güter auf die Schiene“, bringt es Sigrid Nikutta auf eine einfache Formel. Die Kapazität einer solchen Gleisanlage wie München-Nord könne um 40 Prozent gesteigert werden, was gerade in München wichtig wird. Hier kreuzen sich die Ost-West-Magis-trale von Paris nach Bratislava und der Korridor von Nord- und Ostsee über (und ab 2032 durch) den Brenner nach ­Südeuropa.

Zum Vergrößern bitte anklicken

Die Waggons rollen den Berg herunter in Richtungsgleise, wo sie sich mit anderen zu neuen Kombinationen und verschiedenen Zielen formieren. Schon im Sommer passieren sie noch vor der ersten Weiche eine Kamerabrücke. Sie liefert hochauflösende Bilder, aus denen Rangierer am Monitor erkennen können, ob die Waggons intakt sind. Der Rangierer muss nicht mehr am Zug rauf- und runterlaufen. Auch dies, einschließlich des Erkennens von Schäden, wird künftig künstliche Intelligenz übernehmen. Digitalisiert werden auch die automatischen Bremsen im Gleis und die Weichen. Schließlich wird auch noch die vorgeschriebene Bremsprobe automatisiert. All das soll schrittweise bis 2023/24 Wirklichkeit werden. Andreas Scheuers Ministerium fördert den Prozess mit 14,5 Millionen Euro; die Bahn selbst investiert zwölf Millionen. Sigrid Nikutta versicherte, dass die Digitalisierung unter dem Strich keine Stellen koste, sondern sogar neue schaffe.

Das Wichtigste dauert aber länger: die Digitale Automatische Kupplung (DAK). Sie erleichtert nicht nur Rangierern wie Nuri Eryilmaz die Arbeit, sondern bietet auch durchgehend Strom und einen Datenbus, also eine Datenübertragung, im ganzen Zug. Die geschätzten Kosten von europaweit sechs bis acht Milliarden Euro für rund 450.000 Waggons und 17.000 Lokomotiven verhinderten bisher die Einführung, obwohl das Einsparpotenzial mit jährlich 600 bis 700 Millionen Euro beziffert wird. Auch hier bewegt sich laut Bundesverkehrsminister Scheuer etwas. So soll noch in diesem Jahr ein „Demonstratorzug“ mit Prototypen verschiedener Hersteller losfahren. Die Deutsche Bahn und der Minister hoffen, dass die ersten DAK-Züge 2028 fahren. Es wäre ein wichtiger Schritt, den Marktanteil der Schiene im Güterverkehr von jetzt knapp 18 auf 25, wie es der Masterplan Schiene der Bundesregierung vorsieht, oder besser auf das EU-Ziel von 30 Prozent bis 2030 zu steigern. Bis dahin will DB Cargo 30 Millionen Lkw-Fahrten ersetzen und zehn Millionen Tonnen CO2 einsparen.

Das könnte Sie ebenfalls interessieren