„Wir arbeiten nicht nach dem Prinzip ,hire and fire’”
Der Arbeitskräftemangel hat sich zum größten Risiko für die Geschäftsentwicklung der Verkehrsunternehmen entwickelt. Was die Branche entgegensetzt, erläutert Harald Kraus, Vorsitzender des VDV-Personalausschusses und Arbeitsdirektor der DSW21 Dortmunder Stadtwerke, im Gespräch mit „VDV Das Magazin“.
Herr Kraus, in einigen Städten und Regionen hat sich zuletzt die ohnehin schon angespannte Personalsituation bei den Verkehrsunternehmen durch ungewöhnlich hohe Krankenstände von über 20 Prozent verschärft. Worauf führen Sie das zurück?
» Harald Kraus: Eine so hohe Zahl hatten wir noch nie. Sogar auf dem Höhepunkt der Coronapandemie hatten wir sehr geringe Fehlzeiten, und wir haben es geschafft, den ÖPNV am Laufen zu halten – was wir sicherlich auch der hohen Identifikation unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verdanken haben. In dieser Zeit haben wir mit Masken und Selbsttests agiert. Unser Personal scheint sich damit gut aufgehoben gefühlt zu haben. Trotzdem war die Anspannung vorhanden, während Corona unseren Auftrag zur Daseinsvorsorge zu erfüllen. Jetzt gehen die Infektionszahlen zurück, aber bei den Menschen zeigen sich die Folgen dieser Daueranspannung.
Im vergangenen Jahr musste die Hälfte der Verkehrsunternehmen personalbedingt ihr Angebot einschränken. Trotzdem haben Sie zuletzt an anderer Stelle gesagt, dass wir beim Thema Personal gerade „goldene Zeiten“ erleben. Wie meinen Sie das?
» Durchaus provokativ. Denn wer glaubt, dass unsere Personalsituation schon jetzt heftig ist, wird 2030 mit viel Wehmut auf das Jahr 2023 zurückblicken. Der Arbeitskräftemangel wird sich in den kommenden Jahren spürbar verschärfen. Wenn wir nicht jetzt die Weichen richtig stellen, droht der wichtige Beitrag des ÖPNV und des Schienengüterverkehrs zur Verkehrswende und zum Klimaschutz auszufallen.
Wie konnte es zu dieser angespannten Personalsituation kommen?
» Nachdem wir jahrelang dem politischen Auftrag zu sparen nachgekommen sind, liegt nun mit Blick auf die Verkehrswende und unseren Beitrag zum Klimaschutz ein Wachstumskurs vor uns. Seit Mitte der 1990er-Jahre stehen in der Branche die Zeichen auf Liberalisierung und Wettbewerb. Infolge der Sparmaßnahmen haben die Verkehrsunternehmen gelernt, ihre Prozesse immer weiter zu verschlanken – und das sozialverträglich. Mit immer weniger Menschen bieten wir trotzdem einen guten ÖPNV an.
Welche Rolle spielt der demografische Wandel?
» Nun stehen wir zudem vor der Herausforderung, dass in den kommenden Jahren viele Beschäftigte in den Ruhestand gehen, während sich der Arbeitskräftemangel verschärft. Allein die Beschäftigten zu ersetzen, die altersbedingt ausscheiden, ist schon eine sehr große Herausforderung. Hinzu kommen die zusätzlichen Kräfte, die wir benötigen, um die Mehrverkehre, die die Verkehrswende mit sich bringt, zu bewältigen.
Was tut die Branche, um die akute Situation zu lösen?
» Im großen Stil einstellen: Laut VDV-Personalumfrage haben 80 Prozent der Unternehmen 2022 mehr eingestellt als im Vorjahr. Dabei verzeichnen wir teilweise auch ein größeres Interesse an den Verkehrsberufen. Aktuell sprechen wir verstärkt unsere Ruheständler an, ob sie nicht einige Stunden hinter dem Steuer übernehmen und so helfen können, Verkehrsspitzen aufzufangen. Für Fahrdienste bei den Straßenbahnen versuchen wir, Studierende zu gewinnen. In den Städten machen wir damit gute Erfahrungen. Zudem wollen wir mehr Frauen in die Verkehrsunternehmen holen. Dabei können uns attraktivere Teilzeitangebote helfen. Und nicht zuletzt bietet die Arbeitgeberinitiative des VDV zahlreiche Angebote für die Branche und die Arbeitssuchenden wie die Plattform www.in-dir-steckt-zukunft.de.
Was planen Sie über diese kurzfristigen Maßnahmen hinaus?
» Um uns die Fachkräfte vor allem im Fahrbetrieb für die Zukunft zu sichern, wollen wir verstärkt in die Ausbildung investieren. Die duale Berufsausbildung zur Fachkraft im Fahrbetrieb und zum Berufskraftfahrer ist dabei eine wesentliche Stütze. Zusätzlich wird es immer notwendiger, im nahen Ausland nach Arbeitskräften zu suchen und die Möglichkeiten zu nutzen, die uns das novellierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz bieten wird.
Mitarbeitende, die gewonnen werden, müssen aber auch gehalten werden. Wie soll die Arbeit bei den Verkehrsunternehmen attraktiver werden?
» Modernere Dienstpläne, die wir gemeinsam mit den Arbeitnehmervertretungen erarbeiten, spielen dabei eine Schlüsselrolle. Es geht um den Abschied von geteilten Diensten und der Flexibilisierung der traditionellen 6:2-Aufteilung, bei der sechs Tage am Stück gearbeitet wird und zwei Tage frei sind. Natürlich soll auch die Bezahlung gut sein. Die muss aber auch finanziert werden. Das alles wird jedoch nicht ausreichen, um den Personalbedarf zu decken. Die Politik ist ebenfalls gefordert, ihren Beitrag zu leisten.
» Um Fahrpersonal zu gewinnen und zu integrieren, müssen bürokratische und fachliche Hürden abgebaut werden, zum Beispiel bei den Führerscheinen und beim Mindestalter. Der VDV schlägt vor, die gesetzlich geregelten Pflichtstunden beim Führerschein Klasse D so zu flexibilisieren, dass die angehenden Busfahrerinnen und Busfahrer früher ihre Prüfung ablegen können – sobald es ihre theoretischen und praktischen Fähigkeiten erlauben. Mit dem Führerschein Klasse D sollte das Busfahren unabhängig von der Länge der Linie auch ab einem Alter von 21 statt bisher 24 Jahren erlaubt sein. Davon versprechen wir uns einen zusätzlichen Anreiz, in einen Fahrberuf zu gehen.
Die Anhebung des Mindestlohns hat den Druck im Wettbewerb um die Arbeitskräfte erhöht – besonders mit Blick auf die Berufseinsteiger. Nun sind auch Logistik- und Plattformunternehmen wie Getränkelieferdienste zu Konkurrenten der Verkehrsbranche geworden. Wie wollen Sie sich abgrenzen?
» Wir sollten als Branche unsere Vorzüge und unsere Attraktivität als Arbeitgeber noch stärker herausstellen: Bei uns gibt es Betriebsrenten. Bei uns werden Überstunden bezahlt. Wir haben bestimmte Werte und bieten eine sinnstiftende Arbeit für das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge. Kurz gesagt: Wir arbeiten für die Menschen. Dabei sind wir ortsgebunden, sicher und zukunftsgerichtet. Und wir sind eine Branche, die nicht nach dem Prinzip „hire and fire“ arbeitet.
Neben dem Personalengpass zählt zu den Geschäftsrisiken der Branche, dass sich die Qualität der Bewerber in den vergangenen Jahren verschlechtert hat. Das haben laut VDV-Personalumfrage drei Viertel der Unternehmen festgestellt.
» Das ist richtig. Auch daran merken wir, dass die Zahl der Bewerbungen insgesamt deutlich zurückgegangen ist. Zwar wächst angesichts der demografischen Entwicklung und des Wandels zu einem Arbeitnehmermarkt die Herausforderung, Personal zu gewinnen. Aber wir stellen weiterhin nur Menschen ein, die unseren Qualitätsanforderungen nach wie vor gerecht werden. Es ist keine Option, die Qualität des Personals abzusenken. Darunter würde die Kommunikation mit den Fahrgästen und der Leitstelle leiden – besonders bei Störungen – und am Ende vielleicht sogar die Sicherheit. Die fachlichen Kompetenzen und die notwendigen Sprachkenntnisse müssen gewährleistet sein.