Personal
07.06.2024

Mehr Power für die Personalarbeit

Vor allem in den Verkehrsberufen hat sich der Fachkräftemangel zuletzt weiter verschärft. Doch die Unternehmen halten dagegen – sie stellen bundesweit verstärkt ein und erproben neue Wege beim Recruiting. Zudem zeigen Bewerberinnen und Bewerber ein wachsendes Interesse, in der Verkehrsbranche zu arbeiten: eins von mehreren hoffnungsvollen Signalen, die die jüngste VDV-Personalumfrage liefert.


Arbeitssuchende haben in den Verkehrsunternehmen nach wie vor attraktive Perspektiven: Bei der aktuellen VDV-Branchenumfrage zum Thema Personal gaben 75 Prozent der teilnehmenden Betriebe an, dass bei ihnen der Personalbedarf im Jahr 2023 gegenüber 2022 zugenommen hat, bei fast einem Viertel sogar stark. „Die deutschlandweiten Einstellungsoffensiven laufen auf Hochtouren“, berichtet VDV-Präsident Ingo Wortmann: „Müssen sie auch, denn es ist noch ein weiter Weg, um die demografisch verursachten Effekte wettzumachen und uns personell aufzustellen für Angebotsausbau und Mobilitätswende.“



Ebenfalls etwa drei Viertel der Unternehmen gaben in der Branchenumfrage an, mehr Menschen eingestellt zu haben als 2022 – einem Jahr, in dem die Zahl der neu angeworbenen Beschäftigten bereits hoch war. 135 Mitgliedsunternehmen des VDV, die im öffentlichen Personen- und im Schienengüterverkehr arbeiten, haben an der Umfrage teilgenommen. Immer noch am dringendsten gesucht wird Personal im Fahrdienst, gefolgt von Mitarbeitenden im gewerblich-technischen Bereich. Weiterhin hoch ist der Bedarf an Ingenieurinnen und Ingenieuren, IT-Fachleuten, kaufmännischem Personal sowie Auszubildenden und dual Studierenden. „Wir suchen in allen Bereichen“, bekräftigt VDV-Präsident Ingo Wortmann. Was die Branche hoffnungsfroh stimmt: Immer mehr Unternehmen verzeichnen ein gesteigertes Interesse an der Arbeit der Verkehrsbranche und erhalten deutlich mehr Bewerbungen. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die pünktliche Bezahlung, die Ortsverbundenheit sowie flexible Arbeitszeitmodelle sind aus Sicht der Unternehmen die attraktivsten Vorzüge, die Bewerberinnen und Bewerber an der Branche zu schätzen wissen.

Recruiting mit Integration verbinden

Es ist noch ein weiter Weg, um die demografisch verursachten Effekte wettzumachen und uns personell aufzustellen für Angebotsausbau und Verkehrswende.

Ingo Wortmann
VDV-Präsident

Auf der Suche nach neuen Arbeitskräften und möglichen Bewerberinnen und Bewerbern, die bereits seit einiger Zeit in Deutschland sind, erprobt die Verkehrsbranche neue Möglichkeiten. Unter Federführung der VDV-Arbeitgeberinitiative soll ein Projekt schrittweise in der Branche ausgeweitet werden. Dafür wurde eine Kooperation mit Socialbee vereinbart. Das Sozialunternehmen konzentriert sich seit 2016 darauf, geflüchtete Menschen oder Migrantinnen und Migranten für namhafte Unternehmen als angehende Fachkräfte zu gewinnen und dauerhaft in Deutschland zu integrieren. Eines der ersten Unternehmen, die bei der Kooperation mitmachen, ist die Rheinbahn AG in Düsseldorf – Gastgeber der diesjährigen VDV-Jahrestagung. Großes Interesse gibt es auch aus Bonn, München, Frankfurt, Bochum und Dortmund. „Weitere interessierte Verkehrsunternehmen sind herzlich willkommen“, wirbt Lisa Gadomski, Leiterin der VDV-Arbeitgeberinitiative, für das Recruiting- und Integrationsprojekt.

Geplant ist, in einem ersten Testdurchlauf 25 neue Mitarbeitende für die beteiligten Verkehrsunternehmen zu gewinnen und langfristig zu integrieren. Drei weitere bis zu zehnmonatige Durchgänge von der Anwerbung bis zum Integrationsprogramm nach dem Jobeinstieg für insgesamt 100 Teilnehmende sollen folgen. „Es geht nicht nur um eine Personalvermittlung, sondern vor allem um die nachhaltige Integration“, formuliert Xaver Zeller, Team Lead Kooperationspartner Management, den Anspruch von Socialbee. Dabei stützt sich das Unternehmen auf ein deutschlandweites Netzwerk aus sozialen Organisationen, migrantischen Selbstorganisationen und kommunalen Trägern. Herzstück ist das mehr als zehnköpfige Integrationsmanagement-Team, das bereits für über 300 Unternehmen geflüchtete und migrierte Menschen bei ihrem Jobstart betreut hat. Dieses Team sowie eine Hotline sind in den ersten zehn Monaten Ansprechpartner für Fragen rund um die Wohnungssuche, den Nachzug der Familie, Bürokratie sowie medizinische Anlaufstellen. Nach der Unterzeichnung eines Arbeitsvertrags bietet Socialbee in Kooperation mit Partnern Deutschkurse und Trainings an, in denen die Teilnehmenden in ihren Soft Skills wie etwa Zeitmanagement, Selbstorganisation oder dem Umgang mit Feedback geschult werden. Das Unternehmen wirbt damit, dass sich im Durchschnitt auch acht Monate nach Abschluss des Programms noch 90 Prozent der Teilnehmenden im Job befinden.

Neue Wege bei der Personalgewinnung 

„Socialbee ist spezialisiert auf Recruitingmöglichkeiten von geflüchteten Menschen. Damit leisten wir einen wertvollen Beitrag für die Integration in unserer Region“, erläutert Nina Börgel, Abteilungsleiterin Talent Management, die Beweggründe: „Wir versprechen uns von der Kooperation bedeutsame Erkenntnisse, insbesondere im Bereich des Recruitings von Fahrpersonal für Bus und Bahn.“ Bis Ende des Jahres sollen sechs Personen gefunden werden, die eine Ausbildung im Fahrdienst und im technischen Bereich beginnen möchten. Dabei erstellt die Rheinbahn zunächst die jeweiligen Anforderungsprofile. Socialbee sucht dann dafür die passenden Bewerberinnen und Bewerber. Im nächsten Schritt werden diejenigen Kandidatinnen und Kandidaten, die für ein Bewerbungsgespräch in Frage kommen, vorgestellt.

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Rheinbahn-Vorstandssprecherin, Finanzvorständin und Arbeitsdirektorin Annette Grabbe erläutert die Vorteile, die die Zusammenarbeit mit dem Sozialunternehmen bietet: Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels könne die Eingliederung von Flüchtlingen dazu beitragen, „vakante Stellen effektiv zu besetzen“. Auf diese Weise würden die Zugewanderten nicht nur in den Arbeitsmarkt integriert, sondern sie leisteten auch einen weiteren Beitrag, die Belegschaft von 3.500 Mitarbeitenden aus 51 Nationen noch weiter zu diversifizieren. Davon haben auch die Fahrgäste etwas: Denn so können sich breitere Kreise der Kundinnen und Kunden besser verstanden und repräsentiert fühlen. „Die systematische Eingliederung von Flüchtlingen über Programme wie das von Socialbee bietet strukturierte Wege, um notwendige Qualifikationen zu vermitteln“, erklärt Annette Grabbe: „Mit unserer internen Ausbildung für den Fahrdienst können wir Menschen in kurzer Zeit befähigen, einen gesellschaftlich anerkannten Beruf zu erlernen und eine verantwortungsvolle Aufgabe für unsere Gesellschaft zu übernehmen.“

Dass es in der Verkehrsbranche beim Recruiting auch im Ausland noch „Luft nach oben“ gibt, dafür liefert die VDV-Personalumfrage ebenfalls Belege: Nur 13 Prozent der Unternehmen suchen in anderen Ländern aktiv nach Personal – ein Wert, der gegenüber 2023 nahezu unverändert geblieben ist. Etwas mehr als jedes zweite Unternehmen gab als Grund an, es zu schaffen, den Personalbedarf über den deutschen Arbeitsmarkt decken zu können. Die zweithäufigste Aussage war: „Unsere Personalabteilung kann dies nicht (auch noch) leisten“, knapp gefolgt von: „Wir haben uns damit noch nicht beschäftigt.“
Noch zu vergrößern ist auch der Anteil von Frauen, der in den deutschen Verkehrsunternehmen bei etwa 20 Prozent rangiert. „Das reicht bei Weitem nicht aus“, betont VDV-Präsident Ingo Wortmann: „Hier müssen wir uns stärker anstrengen, um den Bedürfnissen einzelner Zielgruppen besser gerecht zu werden.“ Viel hänge von der persönlichen Ansprache, aber auch von den Rahmenbedingungen ab. Die könnten besser sein. Etwa bei der ausbaufähigen Teilzeitquote oder den so genannten geteilten Diensten, bei denen es Arbeitszeitunterbrechungen zum Beispiel während der verkehrsschwachen Tageszeiten gibt. „Angesichts von zwölf Prozent Teilzeitbeschäftigung und 75 Prozent geteilten Diensten müssen wir künftig viel stärker mit den politischen Entscheiderinnen und Entscheidern ins Gespräch kommen“, bekräftigt Ingo Wortmann. Er verweist auf die dahinterliegenden finanziellen Zwänge, „damit wir in die Lage versetzt werden, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen – nicht nur, um neue Leute einzustellen, sondern auch, um die Mitarbeitenden nachhaltig zu binden“.

20 Prozent mehr Personal bis 2030

Damit die Verkehrswende gelingt und um den politisch geforderten Wachstumszielen genügen zu können, prognostizieren die befragten Verkehrsunternehmen, die Zahl ihrer Mitarbeitenden bis 2030 um etwa 20 Prozent erhöhen zu müssen. Beispiel Busfahrerinnen und Busfahrer: Rund 100.000 von ihnen arbeiten derzeit im deutschen ÖPNV. Branchenfachleute gehen davon aus, dass schon jetzt 20.000 bei den öffentlichen sowie bei den privaten Busunternehmen fehlen. Verschärfend wirkt sich der demografische Wandel aus: Die Branche schätzt, dass bis 2030 jedes Jahr zwischen 4.000 und 6.000 Busfahrerinnen und Busfahrer in den Ruhestand wechseln. Der Anteil von Mitarbeitenden aus der Generation der Babyboomer ist bei den Verkehrsunternehmen besonders hoch, weil die Branche wegen politischer Sparvorgaben über Jahre hinweg kaum Nachwuchs einstellen konnte. Im Fahrdienst liegt der Altersdurchschnitt laut VDV-Personalumfrage mit über 50 Jahren noch einmal deutlich höher als im technischen Bereich oder in der Verwaltung, wo das Durchschnittsalter etwa 45 Jahre beträgt.

VDV-Arbeitgeberinitiative als Partnerin

Die Branche wird also ihre Anstrengungen, Arbeitskräfte zu finden und zu binden, hochhalten und intensivieren müssen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Personalabteilungen und ihr Selbstverständnis sowie das Bewusstsein für das Thema Personal in den Chefetagen. „Wir müssen in der Branche noch stärker unsere Kräfte bündeln“, fordert VDV-Präsident Ingo Wortmann. Unterstützung kommt von der VDV-Arbeitgeberinitiative. Durch zahlreiche Service- und Kooperationsangebote bietet sie Unternehmen aller Größenordnungen die Möglichkeit, ihre eigenen Maßnahmen zur Personalgewinnung zu stärken und mit dem branchenweiten Karriereportal in-dir-steckt-zukunft.de Menschen auf die attraktiven Berufe bei den Verkehrsunternehmen aufmerksam zu machen. Aktuell sind dort mehr als 9.000 offene Stellen in allen Bereichen zu finden.

Vier
Fragen an

Welche Wege die Verkehrsunternehmen gehen wollen, um passende Fachkräfte zu finden und zu binden, erläutert Harald Kraus (Foto), Vorstandsvorsitzender der VDV-Akademie sowie Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor bei DSW 21.

Herr Kraus, was macht die Situation für Personalerinnen und Personaler derzeit so schwierig?
» Harald Kraus: Der viel zitierte Fachkräftemangel hat sich längst zu einem echten Arbeitskräftemangel entwickelt. Anderen Personalerinnen und Personalern sage ich gelegentlich: Wenn ihr die Situation im Moment schon als belastend empfindet, wird es ab jetzt noch schlimmer. Allein aus dem Fahrdienst werden bis 2030 aufgrund des demografischen Wandels mindestens 80.000 Beschäftigte in den Ruhestand gehen. Auch der Trend, dass sich die Einstellung zur Erwerbsarbeit ändert – Stichwort Work-Life-Balance – macht vor der Branche nicht halt. Der Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung wächst, und die Fluktuation nimmt zu.

Wie will die Branche diesem Trend begegnen?
» Es geht darum, dass die Beschäftigten das Gefühl haben, für ihre Tätigkeit gerecht bezahlt zu werden. Zu unseren Zielvorstellungen gehören deshalb faire Löhne und adäquate Rahmenbedingungen für gute Arbeit. Zudem müssen Innovationen genutzt werden, um Arbeitsbedingungen zu verbessern, und gesellschaftliche Anstrengungen unternommen werden, um Arbeitskräfte aus dem Ausland und ihre Familien zu integrieren.

Welches Potenzial sehen Sie bei Menschen aus dem Ausland, um die Lücke bei den Arbeitskräften zu schließen?
» Wenn es ideal läuft, können sie uns helfen, mittelfristig die Hälfte des Bedarfs an Fachkräften abzudecken. Wir brauchen dringend Menschen aus dem Ausland. Wenn wir in Deutschland das nicht verstehen, wird unser Lebensstandard extrem darunter leiden – und die Verkehrswende scheitern.

Welche Lösungsansätze gibt es darüber hinaus?
» Die Gewinnung und Bindung von Personal müssen weiter gestärkt werden. Dafür gilt es, uns noch stärker zu vernetzen und Synergien innerhalb der Branche zu nutzen – etwa über die VDV-Arbeitgeberinitiative. Die bessere Finanzierung nicht nur von Verkehrsangeboten und Infrastruktur, sondern auch von Personal muss in den Fokus unserer politischen Arbeit rücken.

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