„Frühlingsgefühle für den ÖPNV“
In vielen Netzen des ÖPNV ist der Fahrschein auf dem Smartphone längst selbstverständlich, aber eben noch nicht überall. So bringt die Einführung des Deutschland-Tickets in vielen kleineren Verkehrsunternehmen und Verbünden einen regelrechten Digitalisierungsschub mit sich. Nicht nur der komplette Vertrieb vom Verkauf bis zur Ticketkontrolle geht online, sondern häufig auch die Organisation der Betriebe selbst.
7
Millionen
So viele Menschen waren laut VDV Anfang Mai mit dem Deutschland-Ticket unterwegs (Stand: 9. Mai). Schon bald könnten das bis zu 17 Millionen sein, wenn Stammfahrgäste von ihren Abos ins D-Ticket wechseln.
Stefan Wiedmer spürt „Frühlingsgefühle für den ÖPNV“. Der Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Warnow (VVW) für die Stadt Rostock und den gleichnamigen viertgrößten deutschen Landkreis wartete Ende April ungeduldig und zugleich neugierig auf das Deutschland-Ticket. Genauer darauf, wie das neue Angebot für Bus und Bahn bei den Fahrgästen ankommt, ob und wie es Mobilität verändert und ob es einen nennenswerten Beitrag zu mehr Klimaschutz leisten kann. „Ich kann nur sagen: ein tolles Produkt. Und allen Fahrgästen zurufen: Nutzt es!“
Hinter dem VVW-Team und den sechs Verkehrsunternehmen, die sich unter dem Verbunddach zum einheitlichen Nahverkehrssystem an der Ostsee und dem Fluss Warnow zusammengeschlossen haben, liegt eine arbeitsintensive Vorbereitungsphase. Der bemerkenswerte Erfolg: In nur wenigen Monaten ist es gelungen, die digitale Version des D-Tickets den Verbundkunden via Smartphone zur Verfügung zu stellen. „Wir wussten ja seit dem letzten Herbst: Da kommt was. Eigentlich ahnten wir es schon seit dem 9-Euro-Ticket: Das muss irgendwie weitergehen“, beschreibt Stefan Wiedmer die Ausgangssituation. Bekannt war auch frühzeitig, dass die Politik für das Ticket elektronische Angebote wollte.
Erste digitale Bausteine waren vorhanden
Beim VVW war das nicht alles Neuland. Seit 2014 gibt es bereits die digitale Fahrplanauskunft über die App auf dem Handy, im Jahr 2018 wurde das elektronische Ticketing „draufgesattelt“. Das war, so der Geschäftsführer, gewissermaßen der erste Baustein für das digitale D-Ticket. Der zweite entstand im Abovertrieb, den die Rostocker Straßenbahn AG für alle sechs Unternehmen gemeinschaftlich mit dem Elektronischen Fahrgeld-Management organisiert.
Unter Einbeziehung des VDV eTicket Service wurde in kürzester Zeit mithilfe zweier externer Dienstleister zunächst das interne Schnittstellenproblem gelöst: Das mobile Ticketing wurde mit dem Abovertrieb zu einer digitalen Lösung kombiniert – mit dem Deutschland-Ticket als zusätzlichem Aboangebot. Es kann online bestellt werden, wobei die Wahlmöglichkeit besteht, es entweder als Chipkarte zu erhalten oder im mobilen Ticketing auf der Smartphone-App. Im weiteren Schritt wurde dann die Rostocker Insellösung in die bundesweite Systematik des interoperablen E-Ticket-Ökosystems integriert. Eine komplexe Organisation, damit das Rostocker Ticket bei elektronischen Fahrkartenkontrollen überall im Land als gültig akzeptiert wird.
Vom D-Ticket profitiert indirekt auch die Rostocker Heide, eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete in Deutschland. Derzeit wächst der Baumbestand nahezu täglich. „Für jedes digitale Ticket in der App lassen wir in Zusammenarbeit mit der Aktion ,Mein Baum für Rostock‘ einen Baum pflanzen“, berichtet Stefan Wiedmer. Grund für das ungewöhnliche Marketing ist der weltweite Halbleiter-Engpass. Die Produktion von Chipkarten, von der im deutschen ÖPNV bereits mehr als 15 Millionen im Umlauf sind, kommt laut VDV eTicket Service der hohen Nachfrage nur noch zögerlich nach. „Deshalb belohnen wir jeden Fahrgast, der statt der Chipkarte die digitale Version des D-Tickets für sein Smartphone bestellt, mit einem kleinen Baum“, erklärt der VVW-Chef. Die Chip-Lösung soll möglichst denen vorbehalten bleiben, die nicht über ein mobiles Telefon verfügen.
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So oder so: Die Nachfrage ist groß. Stefan Wiedmer: „Der Rostocker gilt als zurückhaltend und unaufgeregt, doch auf den Präsentationen in Rostock und in Güstrow sind uns die Bestellanträge für das Deutschland-Ticket regelrecht aus der Hand gerissen worden.“ Der VVW erwartet, dass bis zu 85 Prozent seiner Abokunden auf das neue Angebot umsteigen. Zudem gab es schon vor dem Starttermin 20 Prozent neue Abonnentinnen und Abonnenten. Noch gar nicht abzusehen ist, welche Auswirkungen das Jobticket hat, das Beschäftigten Bus und Bahn bundesweit für nur 34,30 Euro anbietet. Das bestätigt auch VDV-Vizepräsident Prof. Knut Ringat: „Das Deutschland-Ticket bietet gerade für den Jobticket-Bereich ein riesiges Potenzial. Schon heute gehören Jobtickets zu den meistverkauften ÖPNV-Abos.“ Bundesweit seien mehrere Millionen Fahrgäste auf diese Weise mobil. Knut Ringat, Geschäftsführer des Rhein-Main-Verkehrsverbunds, sieht die Attraktivität des neuen Angebots vor dem Hintergrund des steigenden Fachkräftemangels: „Im Kampf um die besten Köpfe kann das Deutschland-Ticket für Arbeitgeber ein entscheidendes Argument sein – dass daher künftig doppelt oder dreifach so viele Menschen mit einem Jobticket unterwegs sind, ist durchaus denkbar.“
Branche erhielt Digitalisierungsschub
Unterdessen macht sich Stefan Wiedmer ein bisschen Sorgen um den sommerlichen Urlauber-Ansturm aus den Millionenstädten Berlin und Hamburg an die Ostseestrände. In den 9-Euro-Ticket-Monaten des Vorjahres seien die Regionalexpress-Züge zum Teil völlig überfüllt gewesen. Nun hofft er auf die „Mobilitätsoffensive“ des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Für alle Fahrgäste des ÖPNV soll ein durchdachtes und attraktives „Landesmobilitätsnetz“ entstehen. Spätestens vom nächsten Fahrplanwechsel im Dezember an sollen auf Schienen und Straßen deutlich mehr Bahnen und Busse fahren als bisher. Geplant sind flächendeckend schnelle und vertaktete Bahn- und Busangebote im gesamten Liniennetz sowie Rufbusse, die auch die kleinsten Dörfer des Landes bei Bedarf bedienen: mehr Züge auf zehn Linien sowie ein „Busnetz MV“ mit hohen Qualitätsstandards und über die Kreisgrenzen hinweg. Zudem gibt das Land einen kräftigen Rabatt für Azubis sowie Seniorinnen und Senioren: Für 29 Euro sollen sie landesweit in den Genuss des vollwertigen D-Tickets kommen – die Älteren voraussichtlich vom dritten Quartal an. Für die Azubis gibt es das Angebot seit Anfang Mai.
Die politische Forderung, das D-Ticket möglichst von Anfang an mobil über Apps auf Smartphones anzubieten, hat nach den Beobachtungen des VDV eTicket Service in der Branche Digitalisierungsschübe ausgelöst. Zum Beispiel bei der Regionalbus-Gesellschaft Unstrut-Hainich- und Kyffhäuserkreis im thüringischen Mühlhausen. „Wir standen vor der Wahl, weiter wie bisher alles analog zu machen oder den Neuanfang zu wagen“, beschreibt Geschäftsführer Nils Oppermann. „Wir haben uns dann dafür entschieden, voll auf die Digitalisierung zu setzen. Der Zeitpunkt, so etwas anzufangen, konnte gar nicht günstiger sein.“ Das Unternehmen, das mit 200 Mitarbeitenden und 100 Bussen den ÖPNV in den zwei Landkreisen sowie den Stadtverkehr in Mühlhausen betreibt, nutzt die Gelegenheit, mit der Einführung des Deutschland-Tickets zunächst einmal den Vertrieb mithilfe eines Dienstleisters durchgängig auf moderne elektronische und automatisierte Standards zu bringen, einschließlich der Umstellung der Kassen in den Bussen.
„Im Aufbau ist eine Plattform, über die auch unsere anderen Tickets von den Abos bis hin zum Einzelfahrschein im Onlineportal zur Verfügung stehen werden“, erläutert Nils Oppermann. Die entsprechende App sei zwar nicht mehr rechtzeitig zum Starttermin des D-Tickets fertig geworden. Das sei „ein Kraftakt“, der erst im Laufe des Jahres zu bewältigen sei. Da auch die Chipkarten noch nicht vorliegen, habe man den Kunden zunächst die vorläufige Papierversion mit einem Barcode aushändigen müssen. Mit dem D-Ticket allein ist die Digitalisierung in Mühlhausen aber lange nicht abgeschlossen. Nils Oppermann: „Jetzt digitalisieren wir das ganze Unternehmen. Wir werden schneller und schlanker.“
Weitere Infos dazu
finden Sie unter:
www.d-ticket.info