50 Prozent mehr
Aufträge sind drin
Ob der Verkehrssektor bis 2030 seine Ziele im Klimaschutz erreichen kann, hängt wesentlich vom Personal ab. Engpässe bei den Mitarbeitenden gefährden nicht nur das bestehende Angebot von Bussen und Bahnen, sondern auch das Wachstum im Schienengüterverkehr. Der VDV regt jetzt an, Kooperationen zwischen Güterbahnen weiter auszubauen und auch freie personelle Kapazitäten zwischen den Güterbahnen stärker zu teilen. Lokführerinnen und Lokführer könnten nicht nur bei Partnerunternehmen, sondern eines Tages vielleicht auch bei Wettbewerbern eingesetzt werden.
Für den Güterzug ist an der Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland die Fahrt erstmal zu Ende. Auf deutscher Seite fehlt eine Lokführerin oder ein Lokführer, um den Zug die letzten Kilometer an sein Ziel zu bringen. Bis die Güterbahn wieder personelle Kapazitäten frei hat oder ein spezialisierter Dienstleister mit Lokpersonal aushelfen kann, können Tage verstreichen. Am Zug passiert bis dahin nichts. „Stillstand ist teuer: Züge, die stehen, sind schlimm für alle Unternehmen“, sagt Joachim Berends, VDV-Vizepräsident und Vorstand der Bentheimer Eisenbahn. Das Beispiel ist fiktiv, könnte aber aus dem Betriebsalltag gegriffen sein. Wie wäre es, wenn sich in so einer Situation Güterbahnen wechselseitig Mitarbeitende zur Verfügung stellen? Etwa, wenn Lokpersonal durch andere Verspätungen in Hannover, Münster oder Dortmund frei wäre. Dann könnten die Kräfte in wenigen Stunden am Zug sein und tagelange Verspätungen vermeiden.
Im Rahmen des Bundesprogramms „Zukunft Schienengüterverkehr zur Förderung von Innovationen“ (Z-SGV) arbeitet die Bentheimer Eisenbahn mit ihren Partnern Havelländische Eisenbahn (HVLE) sowie den Dienstleistungsunternehmen MEV Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft und Trainbutlers zusammen mit dem Start-up Menlo 79 aus Berlin daran, dass die Überlassung von Fahrpersonal künftig unkomplizierter und digitaler wird. Ergebnis könnte dann eine Onlineplattform sein, auf denen „lokführerlose“ Güterzüge und freie personelle Kapazitäten zueinander finden. „Im Moment ist das alles noch sehr zeitintensiv und kostspielig“, sagt Gert Meenken, Betriebsleiter bei der Bentheimer Eisenbahn: „Denn für einen eventuellen Notfall muss schon weit im Vorfeld alles geregelt werden.“ Spricht das Lokpersonal die jeweilige Landessprache, hat es die Nachweise etwa für den Transport von Gefahrgut, darf es die entsprechenden Lokomotiv-Baureihen überhaupt fahren, kennt es sich mit den Sicherheitsanforderungen des jeweiligen Eisenbahnunternehmens aus?
Die nationale Triebfahrzeugführer-Verordnung (TFVO) und die EU-Verordnung 2018/762 zu den Anforderungen an Sicherheitsmanagementsysteme machen die Überlassung von Fahrpersonal zu einem aufwendigen Verfahren. Und das läuft derzeit noch auf Papier. „Der aktuelle Prozess kann uns nicht in die nächsten Jahre bringen“, erklärt Gert Meenken, „denn er passt nicht zu den Anforderungen, die der Markt an die Eisenbahnen stellt – etwa mit Blick auf mehr Flexibilität und bei der Bewältigung von kurzfristig aufkommenden Transporten.“ Ziel ist es, künftig alle Sicherheitsvorschriften, Bescheinigungen und Qualifikationen unkompliziert in einem System abzubilden und zu verwalten. „Wir glauben, dass dies auch für andere Unternehmen interessant ist“, erläutert Vorstand Joachim Berends. Bei der Überlassung von Fahrpersonal arbeitet die Bentheimer Eisenbahn derzeit vor allem mit am Markt etablierten festen Dienstleistungspartnern beziehungsweise mit Dienstleistungsverträgen – in der Regel für Vakanzen, die sich schon frühzeitig abzeichnen.
Für Joachim Berends sind Wettbewerb und Kooperation kein Widerspruch. Als VDV-Vizepräsident wirbt er ohnehin für ein stärkeres Miteinander der Güterbahnen – nicht nur beim Thema Personal, sondern auch beim Einzelwagenverkehr, im Rahmen der Arbeitgeberinitiative und bei der Digitalisierung. Am Ende profitiere die verladende Wirtschaft und der gesamte Schienengüterverkehr: Die Fracht bleibt nicht stehen, wertvolle personelle Kapazitäten können für den umwelt- und klimafreundlichen Transport genutzt und besser ausgelastet werden. Um den Austausch etwa von Triebfahrzeugpersonal unkompliziert zu gestalten, hat der VDV bereits 2013 einen Mustervertrag für seine Mitgliedsunternehmen erarbeitet. Ziel ist es, bei Bedarf auf Basis einer gesicherten rechtlichen Grundlage kurzfristig einen Vertragsstandard an die Hand zu geben, mit dem die Unternehmen schnell und unbürokratisch auf sich ändernde Marktgegebenheiten reagieren können. Aktuell wird der Vertrag überprüft und gegebenenfalls angepasst. Interessierte VDV-Mitgliedsunternehmen richten ihre Anfragen bitte per E-Mail an Marcus Gersinske, Fachbereich Ressourcenmanagement Eisenbahn: gersinske@vdv.de.
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„Wir erleben bei den Güterbahnen gerade die Wachstumsstory, für die wir hart gearbeitet haben“, betont Joachim Berends. Doch die Früchte dieser Arbeit seien in Gefahr. Neben bestimmten politischen Rahmenbedingungen droht vor allem der Fach- und Arbeitskräftemangel, mehr Wachstum und damit mehr Transporte auf der Schiene auszubremsen. „Die Güterbahnen könnten bis zu 50 Prozent mehr Aufträge annehmen.“
Personalbedarf steigt auch bei Güterbahnen
Wie der Personalbedarf bei den Güterbahnen in Deutschland konkret aussieht, hat der VDV durch eine Umfrage ermittelt. Etwa ein Viertel der Unternehmen gab an, dass sie im vergangenen Jahr aus personellen Gründen zeitweilig den Betrieb einschränken mussten. Bei 58 Prozent war der Personalbedarf gegenüber 2021 gestiegen, bei 13 Prozent sogar stark. Die größte Herausforderung, offene Stellen zu besetzen, sehen die Güterbahnen mit 40 Prozent dann auch beim Personal für den Fahrbetrieb (siehe Infografik).
„Wir sind mitten in der Transformation. Umso wichtiger ist es, dass wir uns mit der Politik an den Masterplan Schienengüterverkehr und dessen Aussagen zur Personalbeschaffung und -entwicklung halten“, bekräftigt der VDV-Vizepräsident. Dabei seien auch Bund und Länder gefordert, etwa bei der verkehrsträgerübergreifenden Gleichstellung der personellen Fördermaßnahmen, bei der Einführung von verpflichtenden Inhalten in der Ausbildung für Speditionskaufleute oder bei der Harmonisierung beruflicher Bildungswege. Darüber hinaus weist der VDV darauf hin, dass auch das Potenzial der frühzeitigen Verlagerung vom Lkw auf die Schiene stärker in den Blick genommen werden müsse – etwa beim Kombinierten Verkehr, der dem Schienengüterverkehr kontinuierliche Wachstumsraten beschert.
In den vergangenen zehn Jahren legte das Transportvolumen in diesem Bereich um 26 Prozent zu. Allein 2021 verzeichnete der Kombinierte Verkehr in Deutschland ein deutliches Plus von jeweils rund zehn Prozent in der Verkehrsmenge sowie bei der Verkehrsleistung gegenüber dem Vorjahr. VDV-Vizepräsident Joachim Berends: „Diese Werte könnten noch erheblich steigen, wenn wir an die Aufstockung der vorgesehenen Haushaltsmittel von 150 Millionen Euro pro Jahr denken.“ Dadurch könne die vorliegende Anzahl an Projekten im Bereich Neu- und Ersatzinvestitionen bedarfsgerecht abgearbeitet werden.
Verlader drängen auf die Schiene
Laut Bundesnetzagentur stieg die Verkehrsleistung im Schienengüterverkehr 2021 erheblich an und wuchs um circa 14 Prozent von 123 Milliarden auf 139 Milliarden Tonnenkilometer – bisheriger Rekord. Die positive Entwicklung bei den Güterbahnen lässt das zuletzt vorgelegte Gutachten des Bundesverkehrsministeriums laut VDV in einem fraglichen Licht erscheinen, wonach der Marktanteil bis 2050 auf nur noch 17,3 Prozent im Vergleich zu 2019 sinken wird. „Die Prognose bildet die Lage im Güterverkehrsmarkt nicht ab“, erklärt Joachim Berends: „Speditionen und die verladende Wirtschaft drängen auf die Schiene, weil sie wissen, dass die Straßen voll und die Lkw-Fahrerkabinen leer sind – und bleiben.“ Entlang der Wertschöpfungskette fragen Händler und Verbraucher zunehmend die Ökobilanz ab – und Logistiker möchten klimafreundlichere Antworten geben. VDV-Vizepräsident Berends: „Die Wirtschaft handelt also schon. Das sollte auch von der Verkehrspolitik erkannt werden.“
Die Ergebnisse der Branchenumfrage zum Personalbedarf bei den Güterbahnen in Deutschland:
www.vdv.de/sgvpersonalumfrage