Infrastruktur
12.05.2021

Milliarden-Mittel stehen bereit für die Mobilitätswende

Mehr Geld, schnellere Planung: Die Chancen, den ÖPNV auszubauen, sind so gut wie lange nicht. Die Verkehrsbranche ist gefordert, jetzt rasch einen „Investitionshochlauf“ hinzulegen – nicht nur planen, sondern möglichst bald öffentliche Fördermittel abrufen und bauen. Beispielhaft: Essen schickt die Tram statt in den U-Bahn-Tunnel auf eine neue oberirdische „Citybahn“-Strecke. Und Reutlingen setzt nach mehr als 40-jähriger Abstinenz wieder auf die Straßenbahn – den „Tram-Train“ der Regional-Stadtbahn Neckar-Alb.


Vor dem Tübinger Tor, Reutlingens markantem mittelalterlichen Relikt der einstigen Stadtmauer, passiert schnittig-elegant ein silbergrauer Stadtbahnzug. In Essen winden sich die gelben Züge der Ruhrbahn durch Alleen und auf den Willy-Brandt-Platz vor dem Hauptbahnhof. Diese Bilder sind schicke Visualisierungen, am Computer entstanden. Doch in wenigen Jahren soll die Renaissance der Straßenbahn auch hier Realität sein.

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Nicht nur im Ruhrgebiet und bei den Schwaben: Von Flensburg bis München, von Bremerhaven bis Jena, von Aachen bis Regensburg und anderswo gibt es viele ambitionierte Überlegungen bei Verkehrsunternehmen und in der Kommunalpolitik, für die Mobilitätswende attraktiven ÖPNV auf Schienen einzurichten. Mal werden vorhandene Netze um kurze Linienverlängerungen ergänzt – zum Beispiel die „Lichtwiesenbahn“ in Darmstadt zum Campus der Technischen Universität, die mit einem guten Kilometer Neubaustrecke den Hauptbahnhof ab Dezember 2021 näherbringt. Mal geht es – wie bei der Stadtumlandbahn Nürnberg - Erlangen - Herzogenaurach – um Regionalstadtbahnprojekte nach dem Vorbild des Karlsruher Modells mit Zwei-­System-Bahnen für Vollbahn und Stadtverkehr, den sogenannten Tram-Trains.



Während vielerorts diskutiert wird oder Planungen geprüft werden, wird in Baden-Württemberg am Rand der Schwäbischen Alb schon kräftig gebuddelt. Das „Modul 1“ der Regional-Stadtbahn Neckar-Alb soll bereits zum Fahrplanwechsel 2022/2023 in Betrieb gehen. Es ist eine durchgehende Strecke von Herrenberg im Westen über Tübingen, Reutlingen und Metzingen bis nach Bad Urach: Sie wird auf rund 50 Kilometern elektrifiziert, teilweise zweigleisig oder mit Begegnungsbahnhöfen ausgebaut. Der westliche Teil, die Ammertalbahn, war schon stillgelegt und wurde von einem kommunalen Zweckverband ins Weiterleben geführt. Das Mittelstück betreibt die Deutsche Bahn als Neckar-Alb-Bahn. Der Ostabschnitt mit der Ermstalbahn verdankt sein Überleben rund 2.000 engagierten und zahlungskräftigen Bürgerinnen und Bürgern, die in den 1990er-Jahren die Erms-Neckar-Bahn AG für die vom Verfall bedrohte Infrastruktur gründeten und die Voraussetzungen für den weiteren Zugbetrieb schufen. Ein prominenter Teilhaber engagierte sich schon früh in seinem politischen Leben für den Erhalt der Strecke: der Grünen-Politiker und Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Bundestag, Cem Özdemir. „Ohne das Engagement der Bürger gäbe es die Bahn schon lange nicht mehr“, bilanziert Vorstandschef Carsten Strähle.

Um die Verkehrswende voranzubringen, setzt sich das Land mit Nachdruck dafür ein, große Infrastrukturprojekte wie dieses voranzutreiben. Für mich ist die Regional-Stadtbahn ein Schlüsselprojekt für diese Region.

Winfried Hermann,
Verkehrsminister des Landes Baden-Württemberg

Mit der Inbetriebnahme des ersten Teilstücks der schwäbischen Regional-Stadtbahn werden die Straßenbahnpläne für Reutlingen akut. Vorgesehen ist am Hauptbahnhof im Norden der Stadt eine „Ausschleifung“ von der Vollbahnstrecke, dann auf neuen Gleisen durch die City bis zum Südbahnhof – und möglicherweise weiter zum nahen Albaufstieg über Pfullingen bis Engstingen – mit durchgehenden S-Bahn-Linien aus den umliegenden Regionen. Zwei innerstädtische Trassen stehen zur Wahl; die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Ähnlich die Situation in Tübingen, wo die Tram-Trains Gewerbe- und Industriegebiete im Norden der Stadt erschließen könnten.

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Doch Oberbürgermeister Boris Palmer muss noch skeptische Bürger für das Vorhaben gewinnen: Voraussichtlich mit der Bundestagswahl steht ein Bürgerentscheid pro oder contra Stadtbahn durch Tübingen an. „Wir hoffen und kämpfen“, sagt Eugen Höschele, Vorsitzender der Verbandsversammlung des Zweckverbandes Regional-Stadtbahn Neckar-Alb. Zu kämpfen hat er reichlich, denn wie es nach dem Modul 1 weitergeht, ist noch ziemlich unklar. Auf dem Papier steht ein Netz von gut 200 Kilometern, von denen 45 Kilometer neu gebaut oder reaktiviert werden müssten. 133 Bahnhöfe und Haltepunkte und dichte Taktfahrpläne sollen den Anreiz bieten, das Auto nicht mehr zu nutzen. Höschele hat die Eckdaten, die für das Gesamtprojekt sprechen: In der Region leben 700.000 Menschen, Tendenz steigend.

Hier versammelt sich die Welt der internationalen Unternehmen und ihrer Mitarbeiter.

Eugen Höschele,
Vorsitzender der Verbandsversammlung
des Zweckverbandes Regional-Stadtbahn Neckar-Alb

Die Wirtschaft prosperiert – der Verbandschef nennt nur drei Namen: Amazon, Curevac, Porsche: „Hier versammelt sich die Welt der internationalen Unternehmen und ihrer Mitarbeiter.“ Insgesamt wird mit 3.500 bis 4.000 neuen Arbeitsplätzen in den Bereichen Forschung und Entwicklung sowie Verwaltung und Technik bis 2025 gerechnet. Die wachsenden Pendlerströme gerade rund um Tübingen und Reutlingen bräuchten dringend neue, staufreie Verkehrslösungen. Hinzu kommt für Höschele: Die neue Verkehrspolitik des Bundes mit deutlich erhöhten Fördermitteln aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) und ersten vom Bundestag verabschiedeten Vereinfachungen im komplexen Planungsrecht böten „jetzt geradezu ideal“ die Chance, das Vorhaben in vollem Umfang zu realisieren.

Den Landesverkehrsminister Winfried Hermann hat er hinter sich. 95 Millionen Euro steuern Bund und Land zum 122-Millionen-Projekt des Moduls 1 bei. „Um die Verkehrswende voranzubringen, setzt sich das Land mit Nachdruck dafür ein, große Infrastrukturprojekte wie dieses voranzutreiben. Für mich ist die Regional-Stadtbahn ein Schlüsselprojekt der nachhaltigen Mobilität für die Region“, erklärte der Minister.

Im Rahmen von fünf digitalen Themenwochen stellten die Ruhrbahn und die Stadt Essen das Projekt „Citybahn“ vor - hier Simone Raskob mit Moderator Micha Spannaus.

Bis 2035 will die Stadt Essen einen Modal Split von jeweils 25 Prozent in den Bereichen ÖPNV, Radverkehr, Fußverkehr und Motorisierter Individualverkehr erreichen. Hierfür müssen wir in die Infrastruktur und das Angebot investieren.

Simone Raskob, Bereichsvorstand der Stadt Essen für Umwelt, Verkehr und Sport

Citybahn bindet Essen 51 an

Bessere Mobilität verspricht sich auch die Ruhrmetropole Essen für ihr völlig anders gelagertes Projekt. Auf der Industriebrache des ehemaligen Krupp-Stahlwerkes im Nordwesten der Stadt ist ein neuer Stadtteil entstanden, der allemal eine gute ÖPNV-Anbindung braucht. Es ist Essens 51. Stadtteil, der deshalb schlicht „Essen 51“ genannt wird. Für diese Anbindung sorgen die Stadt Essen und die Ruhrbahn mit dem Bau der Citybahn – einer gut fünf Kilometer langen oberirdischen Straßenbahnstrecke, die aus dem neuen Quartier entlang der City als Umfahrung und dann weiter in die östlichen Stadtteile geführt wird.

„Die Fahrgastzuwächse aus der Verdichtung des städtischen Raumes erfordern von uns neue Mobilitätsmuster. Mit der Citybahn schaffen wir schnelle und neue Direktverbindungen und verbessern insgesamt unser Angebot“, erklärt Uwe Bonan, Geschäftsführer des kommunalen Betreibers Ruhrbahn. Das Projekt ist dabei auch die Antwort auf die an ihren Kapazitätsgrenzen angekommene unterirdische Infrastruktur für Stadt- und Straßenbahnen. Ab 1967 hatte die Stadt nach und nach Tunnelabschnitte für ihre Bahnen in Betrieb genommen. „Leitmotiv der Stadtentwicklung war damals, einen schnellen und möglichst kreuzungsfreien Verkehrsfluss zu ermöglichen, der sich nur durch die Verdrängung des ÖPNV unter die Erde erzielen ließ“, beschreibt Citybahn-Projektleiter Dirk Heidler. Doch die seinerzeit ehrgeizigen Pläne für eine „Stadtbahn Rhein-Ruhr“ als vollwertige U-Bahn scheiterten am Geldmangel in den öffentlichen Kassen.

VDV legt seine Empfehlungen an den nächsten Bundestag vor

„Mobilitätswende forcieren – jetzt mehr bewegen“: Unter diesem Titel hat der VDV seine aktuellen Handlungsempfehlungen zusammengefasst, wie die Fahrgastzahlen verdoppelt werden und der Schienengüterverkehr um 25 Prozent wachsen können. In der kommenden Legislaturperiode müssen Politik und Verkehrsbranche weiter gemeinsam die zentralen Aufgaben Angebot und Finanzierung, Infrastruktur und Planung, Digitalisierung und Vernetzung sowie Mobilitätskonzepte und alternative Antriebe gestalten. Zur Modernisierung und zum Ausbau des ÖPNV richtet der VDV zehn Kernforderungen an den nächsten Bundestag: ÖPNV-Kapazitäten massiv erhöhen, ländliche Räume besser anbinden, Planung beschleunigen, Auswirkungen des novellierten PBefG evaluieren, Neu- und Ausbau der Infrastruktur vorantreiben, Fahrt aufnehmen mit dem Deutschlandtakt, Schienenstrecken elektrifizieren, stillgelegte Schienenstrecken reaktivieren, Barrierefreiheit lückenlos durchsetzen, Personal- und Fachkräftebedarf decken. Um zusätzliche Aufmerksamkeit für seine Botschaften zu erzielen, wird der VDV einen für Verbände eher ungewöhnlichen Weg eingeschlagen: Die verkehrspolitischen Forderungen werden von Arbeiten des bekannten Karikaturisten Heiko Sakurai begleitet (siehe unten).
www.vdv.de/mehr-bewegen

„Nun bedeutet das für die Essener City die Rückkehr der Tram an die Oberfläche“, erläutert Heidler die grundsätzliche Bedeutung des Projektes. Es bietet zudem die Chance, eine moderne Straßenbahn zu bauen, die sich nicht – wie auf anderen Essener Linien – den Verkehrsraum „straßenbündig“ und mühselig mit dem Autoverkehr teilen muss. Geplant sind großzügige Lösungen mit viel Grün und Platz für Radfahrer und Fußgänger – auf „Umweltachsen“, in denen das Auto nur noch für Anlieger und Lieferanten fahren darf.
Der Rückbau von Fahrspuren für den Autoverkehr sei in der Politik und von den Bürgerinnen und Bürgern weithin akzeptiert. Für Simone Raskob, Bereichsvorstand der Stadt Essen für Umwelt, Verkehr und Sport, ist die Citybahn ein entscheidender Baustein auf dem Weg zu einer umweltfreundlicheren Mobilität. „Die Citybahn trägt wesentlich dazu bei, den ÖPNV in Essen weiterzuentwickeln. Bis 2035 will die Stadt Essen einen Modal Split von jeweils 25 Prozent in den Bereichen ÖPNV, Radverkehr, Fußverkehr und Motorisierter Individualverkehr erreichen“, so Raskob. „Hierfür müssen wir in die Infrastruktur und das Angebot investieren.“

Die Fahrgastzuwächse aus der Verdichtung des städtischen Raumes erfordern von uns neue Mobilitätsmuster. Mit der Citybahn schaffen wir schnelle und neue Direktverbindungen und verbessern insgesamt unser Angebot.

Uwe Bonan,
Geschäftsführer der Ruhrbahn

Drei Linien werden die neue Trasse im 140 Kilometer umfassenden Essener Schienennetz der Ruhrbahn nutzen und attraktive Stadtverbindungen schaffen. Die Investition liegt bei 95 Millionen Euro, die weitgehend vom Bund und vom Land Nordrhein-Westfalen erwartet werden. „Die Standardisierte Bewertung ist kurz vor dem Abschluss, wir erwarten, dass sie auskömmlich wird“, ist sich Heidler sicher. Erste technische Vorarbeiten sind zum großen Teil abgeschlossen. Die Trasse soll im nächsten Jahr gebaut werden, die Bahninfrastruktur folgt 2023, um dann 2025 den Betrieb aufzunehmen. Gefahren wird in der in Essen klassischen Meterspur.

Drei
Fragen an

Dr. Jan Schilling,
VDV-Geschäftsführer ÖPNV

Deutlich aufgestockte GVFG-Mittel, erhöhte Regionalisierungsmittel, Erhalt der Entflechtungsmittel und Planungsbeschleunigung: Kann der Infrastrukturausbau des ÖPNV jetzt endlich mal in die Vollen gehen?
» Dr. Jan Schilling: Das Bauen von Infrastruktur ist in Deutschland immer eine Herausforderung, aber der Finanzrahmen stimmt zuversichtlich. Die Politik hat mit Nachdruck die Weichen zugunsten des öffentlichen Verkehrs gestellt. Jetzt sind wir am Zug. Unsere Branche hat die Chance, in großem Umfang die Zukunftspläne für die Mobilitätswende zu realisieren. Allein die Mittel aus dem GVFG-Bundesprogramm verdreifachen sich in diesem Jahr gegenüber 2020 auf eine Milliarde Euro. Und ab 2025 stehen zwei Milliarden Euro zur Verfügung, die in den Jahren nach 2025 um jeweils 1,8 Prozent pro Jahr ansteigen. Zugleich sind die Fördertatbestände beispielsweise im Schienenverkehr erweitert worden.

Ist denn ein schneller, unbürokratischer Abfluss der Fördermittel zu erwarten?
» Nach der Novellierung des GVFG und der Verabschiedung des Planungsbeschleunigungsgesetzes fehlt als dritter Schritt noch die Fortschreibung der Standardisierten Bewertung, mit der Nutzen und Kosten von Verkehrsprojekten abgewogen werden. Das an sich bewährte Instrument berücksichtigt bislang viel zu wenig weitergehende positive Aspekte wie Luftreinhaltung, Klimaschutz, Barrierefreiheit oder auch die längerfristigen wirtschaftlichen Perspektiven einer Reaktivierung von Eisenbahnstrecken. Ich bin aber zuversichtlich, dass das Bundesverkehrsministerium zusammen mit Politik und Branche eine zukunftsgerichtete Lösung bis zum Jahresende hinbekommt.

Was kommt auf die Verkehrsbranche zu?
» Wir brauchen den Investitionshochlauf. Trotz aller praktischen Probleme bei Planungs- und Baukapazitäten muss es der Branche gelingen, die neuen Förderbedingungen und Erwartungen der Politik aufzugreifen und Projekte zur Plan- und Baureife zu bringen. Wenn es nicht gelingt, den Finanzpolitikern ausreichend deutlich zu machen, dass die Gelder benötigt und verbaut werden, besteht das Risiko, dass Mittel auch wieder zurückgefahren werden könnten. Dann wären die jetzt erreichten Erfolge ein Pyrrhussieg.

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