Titelstory
Auf dem Land zeitgemäß unterwegs
Wie sieht die Zukunft des Öffentlichen Verkehrs in ländlichen Räumen aus? Angesichts bewährter Konzepte und neuer digitaler Möglichkeiten kann hier ein großes Potenzial gehoben werden, um die Verkehrswende zu realisieren und die Regionen zu stärken. Dafür erarbeitet der VDV eine entsprechende Strategie mit Handlungsoptionen.
Sinkende Fahrgastzahlen führen zu weniger Einnahmen und höherem Zuschussbedarf. Am Ende steht ein reduziertes Angebot von Bussen und Bahnen. Solch eine Abwärtsspirale drehte sich jahrelang in manchen ländlichen Räumen. Auch die entgegengesetzte Richtung ist möglich: Kundenorientierte Mobilitätsangebote führen zu wachsender Nachfrage und zu Mehreinnahmen. Diesen Dreh will der VDV künftig verstärkt dem ÖPNV in der Fläche geben. In zahlreichen Regionen gibt es ganz unterschiedliche, erfolgreiche Bedienformen. „Der ländliche Raum in Deutschland ist sehr vielfältig. Die Palette reicht von Regionen mit erfolgreichen Unternehmen und einer Vielzahl von Arbeitsplätzen bis zu Gebieten mit einer hohen Attraktivität für Erholungssuchende“, sagt Ingo Wortmann, VDV-Vizepräsident für den Bereich Bus. „Damit bleibt aber klar, dass der ländliche Raum nicht vom ÖPNV abgehängt werden darf, sondern eine Offensive mit auf die jeweilige Situation maßgeschneiderten Angeboten notwendig ist.“
Angesichts der klimapolitischen Ziele der Bundesregierung und der Digitalisierung stehen die Verkehrsunternehmen in der Fläche vor neuen Möglichkeiten und Chancen. Zusätzlichen Rückenwind gibt die Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung. Die ist regional genauso unterschiedlich, wie die einzelnen Kreise, Städte und Gemeinden vielschichtig sind. Dennoch lassen sich seit 2010 in fast allen Kreistypen stabile oder sogar steigende Einwohnerzahlen feststellen. Auch die Randregionen von Kernstädten und verdichteten Kreisen gewinnen Einwohner. Gründe dafür sind günstiger Wohnraum, die allgemein gute wirtschaftliche Entwicklung sowie eine leicht steigende Geburtenrate. In ländlichen Regionen wachsen vor allem Klein- und Mittelstädte mit Bildungs-, Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen. Die andere Seite der Medaille sind jedoch Bevölkerungsrückgänge in abgelegeneren Regionen und der demografische Wandel mit einer Bevölkerung, die immer älter wird.
Das hat Folgen für die Mobilität. Verkehrsmittel Nummer eins ist im ländlichen Raum das Auto. Der ÖPNV-Anteil am Modal Split liegt bei lediglich fünf Prozent. Während sich die Einwohnerzahlen in vielen Regionen stabilisieren oder wachsen, gehen sie in Gebieten jenseits der Hauptverkehrsachsen zurück. Hier steht die Mobilitätssicherung der verbliebenen Einwohner im Fokus. In diesen Regionen ist das Mobilitätsangebot weitgehend auf den Schülerverkehr und zu wenig auf die Bedürfnisse aller Kundengruppen ausgerichtet. Die anhaltende Konzentration öffentlicher und privater Einrichtungen auf die Mittel- und Oberzentren führt zu weiteren Wegen. Immer mehr Menschen pendeln in die Zentren – die Folge sind steigende Emissionen.
Mobilität als wichtiger Standortfaktor
Hier liegen die Chancen des ÖPNV und ein großes Potenzial, CO2-Emissionen zu reduzieren. „Mit passgenauen Mobilitätsangeboten lassen sich auf dem Land beachtliche Fahrgastzuwächse und ein größerer ÖPNV-Marktanteil erzielen“, berichtet Meinhard Zistel, beim VDV Leiter des Fachbereichs ÖPNV-Finanzierung, Demografie und ländliche Räume. „Der Maßstab muss ein modernes, integriertes Mobilitätsangebot für alle Kundengruppen sein.“ Angesichts des demografischen Wandels, sinkender Arbeitslosigkeit sowie fehlender Fachkräfte und Auszubildender sieht Meinhard Zistel in der Mobilität einen wichtigen Standortfaktor, um ländliche Räume lebenswert und attraktiv zu halten (siehe "Regionale Beispiele").
Der Schlüssel für die Zukunft des ÖPNV liegt in der „differenzierten Bedienung“. Dabei werden verschiedene Mobilitätsangebote bestmöglich aufeinander abgestimmt (siehe Infografik). Die wesentlichen drei Bestandteile in ländlichen Räumen sind ein übergeordnetes Hauptnetz von Bahnen und Bussen im Taktverkehr als Rückgrat. Ergänzt wird es von lokalen Linienverkehren, die von den Haltepunkten des Hauptnetzes aus eine Region erschließen. Den „Maßanzug für die Mobilität vor Ort“, so Meinhard Zistel, machen erst flexible Bedienformen richtig passend – wie Rufbusse, die mit alternativen Mobilitätsangeboten – etwa Car- und Bikesharing sowie Ridesharing – erweitert und kombiniert werden können. „Flexible Bedienformen sind kein Allheilmittel zum Erreichen höchster Wirtschaftlichkeit“, sagt Meinhard Zistel. Letztendlich gelte es, den Zuschussbedarf für den Aufgabenträger insgesamt im Blick zu behalten und den regional passenden Mix aus Linienverkehr und flexiblen Bedienformen zu finden.
Differenzierte Bedienung: Verschiedene Mobilitätsangebote werden bestmöglich aufeinander abgestimmt.
Erste Rufbus–Projekte starteten vor 40 Jahren
Schon vor 40 Jahren verkehrten im Rahmen eines Forschungsprojekts der „Rufbus“ in Friedrichshafen und „Retax“ (R-Bus) in Wunstorf bei Hannover – zwei rechnergestützte Systeme mit automatischer Tourenoptimierung. Der „Rufbus“ am Bodensee wurde eingestellt und das „Retax“-System aufgrund gestiegener Nachfrage in den regulären Linienverkehr überführt. Beide Modellvorhaben konnten wertvolle Aufbauarbeit leisten und wichtige Erkenntnisse liefern: Flexible Bedienformen können nicht allein aus Fahrgeldeinnahmen kostendeckend betrieben werden und sind für bestimmte Einsatzbereiche geeignet. Daher müssen sie regelmäßig auf Abrufungsgrad, Auslastung und Zuschussbedarf überprüft werden.
Regionale Beispiele
Plus Bus: Eine Marke in der Region
Im Jahr 2014 starteten die ersten drei Plus-Bus-Linien „Hoher Fläming“ im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Standard sind der einheitliche Stundentakt montags bis freitags an Schul- und Ferientagen, die gute Verknüpfung mit der Bahn bei einer Übergangszeit von höchstens 15 Minuten, Taktverkehr auch am Wochenende sowie hochwertig ausgestattete Busse mit bequemen Lehnsitzen, kostenlosem WLAN und USB-Steckdosen. Schon im ersten Jahr nahmen im Schnitt zehn, in Brandenburg a. d. H. und Lehnin sogar zwischen 25 und 50 Prozent mehr Menschen den Plus Bus. Im zweiten Jahr des Praxisbetriebs fuhren 732.000 Kunden mit. Die Umsteigerzahl zum SPNV hat sich verdoppelt: Auf den Strecken zu den Bahnhöfen stiegen 37 Prozent mehr Fahrgäste zu. Das stärkt auch den Schienennahverkehr. Ziel ist es, den Plus Bus im gesamten Bundesland zu einer stabilen Säule des ÖPNV auszubauen und in allen Landkreisen zu etablieren. Die Fahrzeuge betreibt heute die kreiseigene Regiobus Potsdam Mittelmark GmbH.
Im Kleinbus am Hang
Die knapp 24.000 Einwohner zählende Gemeinde Alfter bei Bonn erstreckt sich teils über dicht besiedelte Hanglagen. Bevor der Rhein-Sieg-Kreis dort Kleinbuslinien einführte, hatten ein Anruf-Sammeltaxi im Schnitt zwei und eine Taxi-Bus-Linie etwa fünf Fahrgäste pro Tag. Der von der Regionalverkehr Köln betriebene „Hangbus Alfter“ fährt auf zwei Linien montags bis freitags im 30-Minuten- und samstags im 60-Minuten-Takt. Sonntags besteht zwischen zwei Ortsteilen weiterhin ein Taxi-Bus-Angebot. Mit unter der Woche durchschnittlich 450 beziehungsweise 590 Fahrgästen pro Tag waren die beiden regelmäßig fahrenden Kleinbuslinien nach nur einem halben Jahr im Vergleich zum vorherigen Angebot überaus erfolgreich. Viele Fahrgäste fahren im Kurzstreckenverkehr, wodurch sich Fahrgastspitzen entzerren und die Fahrzeuge im Linienverlauf gleichmäßig besetzt sind.
Flexibel in der Fläche
Ein Beispiel für eine flexible Bedienform in der Fläche ist der Multibus, der seit 2003 im Kreis Heinsberg verkehrt – ein rein bedarfsorientiertes Angebot. Spätestens eine Stunde vor Antritt der Fahrt muss der Kunde bei der Multibus-Zentrale seinen Fahrtwunsch anmelden. Eine Software bündelt die verschiedenen Aufträge. Eingesetzt werden Kleinbusse der Westverkehr GmbH und von Taxiunternehmen. Vorab festgelegt sind nur die Halte zum Einstieg. Die Routen und die Ausstieghalte ergeben sich aus dem Bedarf der Kunden. Mit der Umstellung entstanden keine zusätzlichen Kosten. Jahr für Jahr wurde das System schrittweise erweitert. 2017 nutzten etwa 133.000 Fahrgäste das Angebot. Derzeit arbeiten Westverkehr und der Kreis Heinsberg als Aufgabenträger daran, den Multibus in der nächsten Stufe zu einem 24/7-Angebotweiterzuentwickeln – 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.