Infrastruktur
21.12.2022

Vom klackernden Relais zum wandernden Block

In die U- und Stadtbahntunnel zieht die Zukunft ein. Mit der Digitalisierung der Leit- und Sicherungstechnik werden Betriebsabläufe zuverlässiger, steigt die Streckenkapazität und werden Voraussetzungen für den automatisierten Zugverkehr geschaffen. In Bonn ist ein Projekt gerade abgeschlossen, in Frankfurt am Main startet ein anspruchsvolles Vorhaben für die Mobilität von morgen.

Wir erwarten weniger technische Störungen, wir sind flexibler in der Betriebsabwicklung und rechnen auch mit deutlichen Einsparungen – und das auf höchstem Sicherheitsniveau.

Anja Wenmakers,
Geschäftsführerin der Bonner Stadtwerke-­Tochter SWB Bus und Bahn


Das Rattern und das Klackern haben aufgehört. In den Technikraum der Betriebsleitstelle des Nahverkehrsbahnhofs Bonn ist stattdessen ein leichtes Summen eingekehrt, ein hörbarer Technologiewechsel. Die Mechanik der Relais, die Signale und Weichen steuern, hat nach jahrzehntelangem Arbeitseinsatz in diesem Stellwerk ausgedient. Nun übernimmt das Elektronische Stellwerk, das ESTW. „Jetzt sind wir wieder auf dem neuesten Stand der Technik“, freut sich Anja Wenmakers, Geschäftsführerin der Bonner Stadtwerke-Tochter SWB Bus und Bahn. Über 200 Kilometer Leitungen, gut 60 Weichen und knapp 230 Signale im Netz der SWB wurden für den elektronisch gesteuerten Betrieb neu verdrahtet und verlegt. Eine Investition in die Zukunft: „Wir erwarten weniger technische Störungen, wir sind flexibler in der Betriebsabwicklung und rechnen auch mit deutlichen Einsparungen – und das auf höchstem Sicherheitsniveau.“ Gewissermaßen über Nacht fand die Grunderneuerung statt. Im Verlauf von zweieinhalb Jahren, ganz überwiegend in den Betriebspausen nach dem letzten und vor dem ersten Zug.

Heiko Müller, oberster Nahverkehrstechniker des Auftragnehmers Siemens Mobility, verweist auf eine Besonderheit des Projekts in Bonn: „Wir haben drei Stellwerke parallel auf Elektronik umgestellt und diese dann miteinander verbunden.“ Die Zentrale sitzt in der Nähe des Hauptbahnhofs; die Außenstellen am Bundesrechnungshof an der Adenauerallee und im rechtsrheinischen Stadtteil Ramersdorf an der Südbrücke werden ferngesteuert.

Nachdem die SWB bereits vor zehn Jahren in die Modernisierung der Leit- und Sicherungstechnik eingestiegen ist, folgt demnächst noch die Umrüstung von drei weiteren Stellwerken auf ESTW-Technologie. Es geht immer um Millionen-Investitionen, die bislang weitgehend über Fördermittel des Landes Nordrhein-Westfalen finanziert wurden. Mittlerweile kommen Erneuerungsinvestitionen als Bundesmittel aus dem Topf des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG). Allerdings leistet der Bund lediglich eine Förderquote von 50 Prozent, während das Land bis zu 90 Prozent der „zuwendungsfähigen Ausgaben“ übernommen hatte. Nunmehr kommen aus der NRW-Kasse lediglich zehn Prozent als Aufstockung der GVFG-Mittel.




Technologiesprung zum Moving Block

„Vor den gleichen Aufgaben, die die Bonner in Angriff genommen haben, stehen viele deutsche Städte, die Bahnen mit Relaisstellwerken betreiben“, stellt Georg Sinnecker, beim VDV Fachbereichsleiter Zugsicherungstechnik, fest. „Neben den beiden klassischen U-Bahnen in Berlin und Hamburg, die in ihren Anfängen schon über hundert Jahre alt sind, wurden die meisten Systeme in den 1960er- und 1970er-Jahren gebaut.“ Das war die hohe Zeit der Relaistechnik in den Stellwerken, doch nunmehr stehe diese Technik allmählich am Ende ihrer wirtschaftlichen Lebensdauer – nicht zuletzt, weil neue Stellwerke in Relaistechnik nicht mehr gebaut werden und die Ersatzteil-Lieferung auf Dauer nicht mehr gesichert erscheint.
Über die ESTW-Technik hinaus bringt die Digitalisierung weitere Möglichkeiten für moderne Mobilität. Ein Stichwort ist der in der Fachwelt so genannte Moving Block – das Fahren im Abstand des Bremsweges. Es löst den im Bahnbetrieb üblichen Zugverkehr in Blockabständen von Signal zu Signal ab: „Grün“ gibt es dort erst, wenn der vorausfahrende Zug den Blockabschnitt verlassen hat. Digitale Kommunikation zwischen Fahrzeugen, Strecken und Betriebsleitstellen erlaubt eine andere, effizientere Lösung: das Fahren hintereinander weg im sicheren Bremsabstand. Das heißt: Der Blockabstand „wandert“ mit den Bahnen. Und er ist dynamisch, berechnet sich aus den Zug-Geschwindigkeiten und dem jeweiligen Bremsvermögen. Das bringt mehr Kapazität auf die Gleise: Zugfolgen von nur zwei Minuten sind technisch, auch sicherheits­technisch, überhaupt kein Problem.

Permanenter Informationsaustausch

„Hohe Zugfolgen, flexibel auf den Bedarf reagieren – das gibt dem ÖPNV eine neue Attraktivität“, beschreibt Siemens-Mann Heiko Müller den Technologiesprung zum Moving Block. Aufbauend auf der ESTW-Technologie ist dafür die Installation eines „Communication Based Train Control System“, kurz CBTC, erforderlich: Das Schienennetz und die sich auf ihm bewegenden Fahrzeuge stehen im permanenten Informationsaustausch, der von einer Operationszentrale aus die jeweilige Betriebssituation in Echtzeit an die Stellwerksrechner weiterleitet.

Hightech mannshoch (r.): Christian Lehr, Bereichsleiter Signaltechnik bei SWB Bus und Bahn, demonstriert die Dimension der neuen ESTW-Technologie. Die Mechanik der Relais (l.) hat ausgedient.

Das Frankfurter Verkehrsunternehmen VGF ist das erste in Deutschland, das die Möglichkeiten von CBTC nutzen und dafür ein „Digital Train Control System Frankfurt“ (DTC) aufbauen wird. VGF-Geschäftsführer Michael Rüffer beschreibt das Ziel: „Wir werden die Zugsicherung des gesamten U-Bahn- und dann auch Straßenbahnnetzes auf DTC umstellen.“ Ein Projekt, „mit dem die Stadt und die VGF bundesweit führend sein werden“, freut sich Mobilitätsstadtrat Stefan Majer von den Grünen. Der „wandernde Block“ ist dabei nur ein Aspekt von mehreren, von dem die Frankfurter bis zu einem Viertel mehr Kapazität im Tunnel erwarten – ohne Neubau von Gleisanlagen und Tunnelstrecken.

Die intelligente Leit- und Sicherungstechnik ermöglicht außerdem automatisierte Betriebsformen bis hin zum vollautomatisierten Fahren im Tunnel – mit positiven Auswirkungen auf die Fahrplanstabilität und einem um bis zu 15 Prozent sinkenden Energieverbrauch. Frankfurts U-Bahnen fahren aber nicht nur im Tunnel, sondern auf den Außenästen auch überirdisch im Straßenverkehr. Vom neuen DTC-System verspricht sich die VGF Innovationspotenziale etwa bei der Beeinflussung von Lichtsignalanlagen: Wenn im Tunnel die Zahl der Züge dank des Moving Blocks steigt, müssen die Bahnen auch an der Oberfläche hinter dem Tunnelausgang zügiger weiterkommen – statt vor roten Ampeln im Stau zu enden. Hier verbindet sich DTC mit dem städtischen Verkehrssteuerungsprojekt MIND (Multimodal, Intelligent, Nachhaltig, Digital) zu einer integrierten Gesamtlösung für den öffentlichen Verkehr und den Individualverkehr. Mit rund zehn Jahren Umstellungszeit rechnet man in der Main-Metropole, zunächst bei allen neun U-Bahnlinien und dann bei zehn Straßenbahnlinien. Den Anfang machen die U 4 und die U 5. Für sie soll 2025 das digitale Zeitalter beginnen, pünktlich zur Verlängerung der U 5 ins neue Europaviertel.

Noch außer Betrieb: In der Schlussphase der zweieinhalbjährigen Bauzeit im Bonner ­Tunnel waren die neuen Signale schon installiert, aber nicht ­eingeschaltet.

Georg Sinnecker vom VDV denkt schon weiter: „Die Digitalisierung wird die Automatisierung des Schienennahverkehrs mit Macht vorantreiben. Das liegt nicht nur an Kostenvorteilen und zusätzlicher Attraktivität, sondern schlicht am anhaltenden Lokführer-Mangel.“ So planen die Millionenstädte Hamburg, München und Berlin vollautomatische und damit fahrerlose U-Bahnlinien. In Nürnberg und in über weiteren 40 Großstädten in aller Welt gibt es dies schon seit Jahrzehnten in geschlossenen Tunnelsystemen. In Hamburg fahren seit Mitte September vier S-Bahn-Züge der S 2 im überirdischen Bahnnetz autonom – erst auf einem Teilabschnitt und noch in Lokführer-Begleitung. Derweil freut sich Anja Wenmakers über kollegialen Zuspruch aus anderen U-Bahnstädten: Die in Bonn ausrangierte Relaistechnik ist noch kein altes Eisen – in anderen Stadtbahnnetzen sind die Schaltelemente hoch willkommene Ersatzteile.

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