Infrastruktur

06. Juni 2024

Mehr Saft und Kraft für die Elektrifizierung

Auch unter der Ampelkoalition lahmt die weitere Elektrifizierung des ­Schienennetzes. Das Ziel der Bundesregierung, bis 2030 drei Viertel mit einer Oberleitung auszustatten, gerät zunehmend außer Reichweite. Der VDV und die Allianz pro Schiene fordern mehr Tempo und weniger Bürokratie – und machen eine neue, realistischere Zielvorgabe.

Es geht nicht so recht voran mit der Elektrifizierung des Schienennetzes. Zuletzt kamen im Schnitt etwa 80 Kilometer Oberleitung pro Jahr hinzu. Bis 2030 sollen laut Koalitionsvertrag 75 Prozent des Bundesschienennetzes elektrifiziert sein. Das Ausbautempo reicht jedoch bei Weitem nicht, um das selbst gesteckte Ziel zu erreichen: Aktuell beträgt der Elektrifizierungsgrad 62 Prozent. Wird das nichtbundeseigene Netz mit seinen 5.000 bis 6.000 Kilometern einschließlich der Hafenbahnen hinzugerechnet, sogar nur 56 Prozent. Von seinem Ausbauziel ist Deutschland 4.500 Kilometer entfernt – also etwa die fünffache Strecke zwischen Hamburg und München. Lediglich 1.100 Kilometer hat die Bundesregierung nach eigenen Angaben bereits in der Planung. Das würde zu einem Anteil von 65 Prozent führen – zehn Prozent unter der Zielmarke. Um die 75 Prozent trotzdem zu schaffen, müssten in den verbleibenden sieben Jahren jeweils 600 Kilometer Bundesschienenwege elektrifiziert werden (siehe Infografik), was einer Verachtfachung des Tempos entspräche. „Das ist, so bedauerlich wir das finden, beim bisherigen Umsetzungsstand gänzlich unrealistisch“, sagte Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Branchenverband VDV. Beide Verbände wollen die Politik weiter anspornen, mit dem Ausbau der Infrastruktur ernst zu machen – und sprechen sich für eine Anpassung des Elektrifizierungsziels aus: „Wir halten 80 Prozent bis zum Jahr 2035 nicht nur für wünschenswert, sondern auch für realistisch“, sagte Dr. Martin Henke, Geschäftsführer Eisenbahnverkehr beim VDV.

Anteil elektrifizierter Strecken im staatlichen Eisenbahnnetz in Deutschland

Zu wenig Geld, zu langsam, zu wenig personelle Ressourcen bei den Baufirmen, zu viel Bürokratie: Das sind die wesentlichen Gründe, warum der Oberleitungsausbau hinter den Zielen zurückbleibt. Vorschläge, wie die zu erreichen sind, liegen seit Ende 2022 auf dem Tisch. Die von der Bundesregierung eingesetzte Beschleunigungskommission Schiene schlug neben einer stabilen Finanzierung im Wesentlichen einen Abbau von Bürokratie vor – und zum Beispiel bei Elektrifizierungsvorhaben auf die Nutzen-Kosten-Bewertung und auf aufwändige Genehmigungsverfahren bei kleineren Projekten zu verzichten. Das Ziel, mehr Oberleitungen zu bauen, stehe fest, und die Elektrifizierung ab einer gewissen Streckenauslastung sei in jedem Fall volkswirtschaftlich sinnvoll. Um die Infrastruktur mittel- bis langfristig zu finanzieren, schlagen die Verbände jeweils eine Fondslösung für den Erhalt sowie für den Aus- und Neubau vor.

Neue Standards erleichtern Elektrifizierung

Für Nebenstrecken gibt es mittlerweile deutlich kostengünstigere Bauverfahren. Martin Henke kündigte noch für das laufende Jahr neue Regelwerke und Standards an. Sie werden zusammen mit der DB ausgearbeitet und können die Elektrifizierung von Strecken vereinfachen, auf denen nicht schneller als 120 Stundenkilometer gefahren wird. Zudem arbeitet die Branche daran, die Elektrifizierung auch durch Kooperationen bei der Ausbildung von Oberleitungsmonteuren zu beschleunigen.

Bahn der DB in Landschaft unter Fahrdraht
Unter Fahrdraht läuft der Zugverkehr leiser, klimafreundlicher und kostengünstiger. Das gesamte Netz kann von einzelnen Streckenelektrifizierungen profitieren: Es wird leistungsfähiger und resilienter.
Dr. Martin Henke Geschäftsführer Eisenbahnverkehr beim VDV zum angepassten Elektrifizierungsziel

Wir halten 80 Prozent bis zum Jahr 2035 nicht nur für wünschenswert, sondern auch für realistisch.


Dr. Martin Henke

Geschäftsführer Eisenbahnverkehr
beim VDV zum angepassten Elektrifizierungsziel

Das Ziel, komplett klimaneutral unterwegs zu sein, liegt bei der Eisenbahn bereits in Sichtweite. „Als Verkehrsträger hat die Eisenbahn mehr Chancen, schneller in die 100 Prozent Klimaneutralität zu kommen, als jeder andere Verkehrsträger – wenn man das will“, machte Martin Henke deutlich. Über 90 Prozent der Verkehrsleistung auf der Schiene werden in Deutschland bereits elektrisch erbracht. Mit diesem Wert wollen sich die Verbände allerdings nicht zufriedengeben. „Wir müssen auch die Elektrifizierung der Schieneninfrastruktur in den Blick nehmen“, sagte Dirk Flege: „Wo keine Oberleitung hängt, gibt es auch kein Wachstum.“

Denn wo die Züge mit Strom fahren, wird der Eisenbahnverkehr einfacher, leiser, leistungsfähiger, kostengünstiger und noch klimafreundlicher. Zudem wird das Netz stärker und resilienter. Bei Bauarbeiten wie etwa bei der anstehenden Generalsanierung oder bei Störungen können elektrifizierte Strecken als Umleitung genutzt werden, ohne dass aufwändig von E-Loks auf Dieselloks umgespannt werden muss. Auch der Güterverkehr profitiert: Auf elek­trifizierten Strecken können längere und schwerere Züge fahren, ohne Lokwechsel, auch über die Grenzen hinweg in die Nachbarländer. Martin Henke stellte eine, wie er selbst fand, „gewagte Behauptung“ auf: „Wenn alle Hauptstrecken der DB elektrifiziert wären und überall Gleise wieder gelegt würden, wo man sie rausgerissen hat, dann hätten wir ein doppelt so leistungsfähiges Netz.“

Dirk Flege Geschäftsführer der Allianz pro Schiene

Wo keine Oberleitung hängt, gibt es auch kein Wachstum.


Dirk Flege

Geschäftsführer der
Allianz pro Schiene

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